Storytelling oder das Erzählen guter Geschichten bereichert nicht nur unser Leben, sondern vor allem auch den Yogaunterricht. Warum braucht es gutes Storytelling im Yogaunterricht? Dazu erzählt dir mehr Roland Jensch, Yogalehrer und großer Freund guter Geschichten.
Eine Yogastunde durch eine weise Erzählung einzuleiten oder zu beenden, gibt jeder Einheit noch mehr Kraft und vermittelt Weisheit auf eine ganz bestimmte magische Weise. Doch warum ist das so? Nun, seit geraumer Zeit schon prägen Geschichten meinen Yogaunterricht – alte indische Epen genauso wie Erzählungen und Märchen aus nahen und fernen Ländern sind häufig Bestandteil meiner Yoga-Klassen und Yoga-Workshops. Doch warum sind gute Geschichten im Yoga(Unterricht) so wichtig? Lass uns passender Weise dazu folgende Legende betrachten:
Vom Tiger, der glaubte, er wäre eine Ziege
Vor langer, langer Zeit – gehen wir davon aus es war in Indien – pirschte eine hochträchtige Tigerin durch das Gestrüpp. Der kugelrunde Bauch stand in scharfem Kontrast zu der sonst bis auf das Skelett abgemagerten Silhouette. Seit Wochen hat sie kein Glück bei der Jagd gehabt und war inzwischen zu schwach, um zu jagen. Eine ausweglose Situation – könnte man meinen. Bis sie auf einmal Ziegen witterte. Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte und pirschte sich langsam an die Lichtung an, auf der friedlich einige Ziegen grasten. Der Wind stand günstig für sie und die Ziegen hatten nicht die leiseste Ahnung, was ihnen drohte. Als die Tigerin ganz nah war übermannte sie der Hunger und mit lautem Knurren (vielleicht war es ihr Bauch) sprang sie in einem großen Satz auf die Wiese. Gewarnt durch das Knurren hatten die Ziegen genug Zeit zu flüchten. Mit letzter Kraft brachte die Tigerin ihr Tigerjunges zur Welt und verstarb gleich nach der Geburt.
Und da lag er nun: Ein verwaister, frisch geborener, kleiner Tiger. Da Ziegen sehr fürsorgliche Tiere sind, nahmen sie – nachdem sie sich vergewissert hatten, dass von der Tigerin keine Gefahr ausging – das Tigerbaby bei sich auf und zogen es groß. So kam es, dass der junge Tiger unter Ziegen aufwuchs und tat, was Ziegen eben so den ganzen Tag machen: grasen, meckern, sich kratzen. Er hatte wirklich nicht die leiseste Ahnung, dass er eigentlich gar keine Ziege war.
Eines Tages hatte ein weiterer, großer Tiger die Witterung der Ziegen aufgenommen. Der erfahrene Jäger schlich sich unbemerkt an und hätte problemlos eine der friedlich grasenden Ziegen reißen können. Als er allerdings den jungen Tiger sah, wie er sich da unter den Ziegen bewegte und auch genauso benahm blieb er völlig verdutzt stehen und sprach ihn an:
„Sag mal, was machst du da?!“
„Was meinst du?“ antwortete der, „ich fresse Gras. Was wir Ziegen eben so machen“.
„Aber du bist doch ein Tiger!“
„Tiger? Nie davon gehört. Ich bin eine Ziege!“
Da ward es dem älteren Tiger zu bunt. Er packte seinen jüngeren Artgenossen am Nacken und schleppte ihn zu einem nahe gelegenen Teich. Es wehte kein Wind und die Wasseroberfläche war spiegelglatt.
„Schau mir ins Gesicht und dann schau ins Wasser!“
Der kleine Tiger tat wie im geheißen war, was allerdings keinen nachhaltigen Effekt auf ihn zu haben schien. Gut, eine gewisse Ähnlichkeit wie das runde Mondgesicht und die typische Zeichnung war nicht zu verkennen, aber „klick“ machte es nicht bei ihm.
„Oh Mann!“, dachte sich der alte Tiger.
Wieder packte er unseren Jungspund beim Nacken und schleppte ihn dieses Mal zu seiner Höhle vor der eine Tigerin an einer frisch gerissenen Antilope fraß. Der Tiger riss ein schönes Stück blutiges Fleisch heraus und warf es dem Jüngeren hin.
„Hier. Friss das!“
„Aber…aber ich kann nicht. Ich bin doch Vegetarier!“
Nach einiger Überredungskunst ließ er sich dann aber doch hinreißen und, was soll ich sagen?! Es schien ihm zu schmecken. Die ersten Bissen waren noch sehr zaghaft, aber schließlich kam ihm etwas das durchaus als ein Tiger-Knurren durchgehen kann (wenn auch ein zaghaftes) über die blutigen Lippen.

Geschichten zum Aufwachen
Was haben all diese Ziegen und Tiger denn nun mit Yoga zu tun?! Eine der großen Fragen der Menschheit ist sicherlich die Frage nach dem „wer bin ich?“. Und ähnlich wie in unserer kleinen Geschichte dauert es manchmal eine ganze Weile bis wir auf die richtige Spur kommen. Wir leben wie der junge Tiger unter Ziegen und haben oft nicht die leiseste Ahnung was überhaupt los ist. Yoga ist für uns ein Weg einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen. Und weil wir uns so oft verlaufen sind Geschichten eine sehr schöne Art um uns auf diesem Weg zu begleiten.
Märchen, Sagen und Geschichten. Sie sind seit Urzeiten ein fundamentaler Bestandteil der menschlichen Existenz. In allen Kulturen und zu allen Zeiten wurden und werden Geschichten zu erzieherischen Zwecken erzählt, um Wissen, Kulturgut, Moralvorstellungen zu vermitteln oder einem Unterhaltungszweck zu dienen. Die Geschichten mit denen wir aufwachsen, prägen massiv unsere kulturelle Identität und unser Weltbild. Sie bringen uns bei, wie wir die Welt wahrnehmen und mit ihr interagieren.
Kindern erzählt man Geschichten damit sie einschlafen. Erwachsenen damit sie aufwachen
Jorge Bucay

Geschichten für neue Blickwinkel
Geschichten erlauben uns, einen anderen Blickwinkel einzunehmen und so andere Möglichkeiten kennenzulernen die wir bisher vielleicht verpasst haben. Das Zauberhafte an Märchen ist nicht etwas, das in einer anderen Welt verdrängt wird, sondern spielt sich hier und heute ab. Zusammenhänge oder etwa philosophische Konzepte rein mit dem Verstand zu betrachten, macht die Sache oft nicht einfacher und wir verstricken uns häufig noch mehr in Meinungen und festen Vorstellungen. In Geschichten und Märchen tickt die Welt häufig etwas anders und unsere Vorstellung von Logik hat dort meistens keinen großen Einfluss auf den Lauf der Dinge.
Stories ermöglichen es uns, die Welt in einem anderen Licht zu sehen und eine neue Perspektive einzunehmen. Wir lernen einen anderen, vielleicht umfassenderen Blick auf die Welt, in der wir leben. Und da wir als Menschen – jeder und jede einzelne von uns – Teil dieser Welt sind, helfen uns Geschichten auch dabei, uns selbst besser zu verstehen. Und mit der Zeit klarer zu erkennen, wer wir sind und was das hier alles soll.
Über den Autor Roland Jensch:

Roland Jensch lebt gemeinsam mit deiner Partnerin Liz Huntly auf einer kleinen Farm in Ontario/ Canada. Dort verbringen sie viel Zeit im Gemüsegarten und mit Hühnern, Ziegen und Bienen.
Roland und Liz unterrichten weltweit Workshops, Retreats und in Yogalehrer-Ausbildungen in englischer und deutscher Sprache.
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