Yoga- und Meditationslehrer Florian Palzinsky darüber, dass wir alle immerzu Yoga Schülerinnen und Yoga Lehrerinnen sind und wie wir zur Essenz des Yoga finden können …
Solange wir auf diesem Planeten leben, ist es uns in die Wiege gelegt, Schüler*in zu sein. Bewusst oder unbewusst lernen wir. Von unseren Eltern, Geschwistern, Lehrer*innen, Mitschüler*innen, von Freund*innen, Feind*innen und all den Mitmenschen, die uns tagtäglich begegnen. Aber ist uns eigentlich klar, dass wir vom ersten Atemzug an auch Lehrer*innen sind? Denn wer könnte uns beispielsweise besser das natürliche und entspannte Atmen zeigen als ein Baby? Und wer könnte uns unsere eigene Vergänglichkeit besser vor Augen führen, als ein alter Mensch, der schon mit einem Fuß am Ausgang der Lebensbühne steht?
Yoga entdecken – ein Geben und Nehmen
Im Yoga ist es nicht viel anders. Egal nämlich, ob wir uns wie ein unfähiger Anfänger oder eine unfähige Anfängerin fühlen oder als großartigen Meister beziehungsweise großartige Meisterin. Stehen wir uns selbst und dem Wesenskern des Yoga ehrlich gegenüber, dann sollten wir uns immer wieder unserer gebenden und nehmenden Qualitäten des Lehrens und Lernens bewusst sein. Erst dadurch wird unser mangelndes Selbstbewusstsein gestärkt. Und die notwendige Erdung durch einen gesunden Schuss Demut hergestellt.
Manchmal müssen wir jedoch erst einen mühsamen Umweg über die Welt draußen machen, um zu unserer eigenen inneren Leichtigkeit zu finden. Als ich beschloss, mich dem Yoga (sprich: Asanas) in Indien ernsthaft zu widmen, hatte mein Schicksal einen entsprechenden Lehrer für mich parat. Ganz im Gegensatz zu den spielerischen und humorvollen Ansätzen meiner ersten Yogaeinheiten, war ich dieses Mal mit so viel Angst konfrontiert wie selten zuvor in meiner Schulzeit. Nicht aus leidenschaftlicher Hingabe oder egoistischem Ehrgeiz war ich ganz auf die Übungen konzentriert, sondern aus Furcht vor den tadelnden Worten meines Yogachariyas.
Diese Haltung der Unfehlbarkeit hat im yogischen Mutterland zweifellos Tradition, wie man auch in der Dokumentation „Der atmende Gott“ (Trailer weiter unten) sehen konnte. Vielleicht wäre bei manch einer dieser verehrten beziehungsweise eingebildeten Yogagrößen ein ehrlicher Blick in den Spiegel oder ein Besuch bei einem Therapeuten heilsamer, als dem Kontrollwahn über den eigenen Körper freien Lauf zu lassen, um dann Ähnliches bei seinen Schüler*innen auszuagieren.
Die Definition einer “wirklichen” Asana
Lange bevor Asanas in Ost und West populär wurden, bemerkte Sri Ramana Maharshi, einer der größten indischen Weisen des letzten Jahrhunderts, darüber einmal Folgendes: „Warum all die Asanas, nur um sich selbst zu erkennen? Die Wahrheit ist, dass sich aus dem Selbst (Atman) das Ego (Asmitha) erhebt; es verwechselt sich mit dem Körper, hält die Welt für wirklich, hegt dann mit egoistischen Vorstellungen alle möglichen wilden Gedanken und sucht nach Asanas. Asanas sollen einem Menschen festen Sitz geben. Wo, außer in seinem eigenen wahren Zustand kann er fest gegründet sein? Das ist wirkliches Asana.“
Wie wir zur Essenz des Yoga kommen
Egal wie gut oder schlecht, erfahren oder unerfahren, sympathisch oder unsympathisch ein Lehrer oder eine Lehrerin auf uns wirkt, lernen könnten wir von allen; allerdings ist dafür eine gewisse Selbstkenntnis notwendig. Es braucht die Qualität von viveka (Unterscheidungsfähigkeit), um nicht die eigenen Schwächen auf andere zu projizieren.
Sollten wir in jedem zertifizierten oder selbsternannten Yogalehrer ein Vorbild sehen? Wie sinnvoll ist es, den wunderbarsten, ausgefeiltesten Körperübungen von jemandem nachzueifern, wenn dieser in seinem Leben nicht einmal die yogischen „10 Gebote“ von Yama und Niyama integriert hat? Als ich kürzlich nach einem Yogaworkshop mit einem international profilierten Yogalehrer auf dessen Wunsch einen Biergarten besuchte, war ich doch etwas überrascht, als er ein großes Bier nach dem anderen trank und dazu einige Portionen Würste verzehrte. Trotzdem finde ich solch ein menschlich ehrliches Verhalten sympathischer, als wenn fanatische Veganer*innen über die „sündhaften Fleischesser*innen“ lästern und „orthodoxe Yogis“ ihre sattvische Reinheit durch Zwiebel und Knoblauch bedroht sehen, aber ohne Kaffee vielleicht gar nicht durch den Tag kommen. Und wie ernst kann ich Yogalehrer nehmen, die ihren Schülerinnen „tantrischen Privatunterricht“ geben und sich dabei auf die Hatha Pradipika berufen?
Durch wen, durch welche Praxis und durch welche Lebenssituation wir letztendlich näher zur Essenz des Yogas kommen, ist genauso individuell wie unvorhersehbar. Mancher essenzielle Auslöser hat gar nichts mit Yoga zu tun und bewirkt trotzdem eine ganz tiefe Berührung mit uns selbst.
Fotocredit: Lucas Pezeta | pexels.com
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