Text von Gerlinde Szaal.
In ihrem Buch “Stille – meine buddhistische Kur für ein leichteres Leben” stellt sich Kankyo Tannier mutig dem Paradox, mehrere zehntausend Wörter über Stille zu schreiben. Sie tut dies mit Witz und Charme sowie einer Prise französischer Nonchalance. Gastautorin Gerlinde Szaal schreibt hier über dieses “stille” Buch und stellt dir gleichzeitig vier besondere Stille-Übungen vor …
Worte über Stille
Kann man über das Unsagbare wie Stille denn eigentlich Worte verlieren? Kann man. Zumindest schafft das Kankyo Tannier hervorragend. Die Autorin selbst bezeichnet sich als buddhistische Zen-Nonne 2.0. Sie betreibt einen Blog, ist zuständig für die Auftritte buddhistischer Organisationen in den sozialen Netzwerken, unterrichtet Meditation, hält Vorträge und arbeitet als Therapeutin und Gesanglehrerin.
Das vorliegende Buch ist reich an persönlichen Erlebnissen, Erfahrungen und Gedanken Tanniers. Vor allem aber enthält es zahlreiche Übungen, die Zutritt zu inneren Schätzen verschaffen. Viele von ihnen lassen sich leicht in den normalen Tagesablauf integrieren. Weil man dafür weder vor Sonnenaufgang aufstehen, noch besonders viel Zeit in seinem Kalender freischaufeln muss. Es geht vielmehr darum, in die täglichen Aktivitäten kleine Prisen Achtsamkeit und innerer Sammlung einzustreuen.
Innere Stille, Medien-Stille und private Stille
Die Entwicklung einer inneren Stille erlaubt es uns, auch in angespannten Lebenslagen entspannt zu bleiben. Auch dann, wenn die Welt um uns herum laut ist. Wenn unsere Emotionen durcheinander wirbeln. Still zu sein heißt, im Umgang mit der Umwelt ein anderes Tempo einzulegen, ein langsameres. So empfiehlt die Autorin zum Beispiel „Medien-Stille“ d.h. Nachrichten nur hin und wieder anzuschauen und sich ein paar Tage nicht in die sozialen Netzwerke einzuloggen. Denn die Abstinenz von öffentlicher Aufregung ermöglicht es uns, einen Schritt zurückzutreten. Dieselbe Regel lässt sich auch auf das Privatleben anwenden, in der Arbeit ebenso wie in der Familie. Sich in Stille zu üben heißt hier, erst einmal abzuwarten und nicht unmittelbar auf eine negative Situation zu reagieren. Erst einmal eine Nacht darüber zu schlafen, durchzuatmen.
Kankyo Tannier ist zutiefst davon überzeugt, dass wir damit zu nichts Geringerem als dem Weltfrieden beitragen, denn: Der Mensch lernt durch Nachahmung. Wenn man einige Minuten in Gegenwart eines vollkommen gelassenen Menschen verbringt, spürt man, wie der eigene innere Rhythmus sich verlangsamt. Diese „Seinszustände“ sind ansteckend! Daher ist das Üben von Gelassenheit ein Projekt von gesellschaftlicher Tragweite.
Hindernisse für die innere Stille
Stille ist unendlich kostbar. Das sagen zumindest Weise und Philosophen aller Kulturen und Zeiten. Was kann uns also hindern, uns in Stille zu üben? Was hält uns davon ab, der Welt das Geschenk unseres Schweigens zu machen?
Stille jagt uns nicht selten Angst ein, denn sie konfrontiert uns mit der größten Herausforderung, die das Menschenleben mit sich bringt: dem Gefühl des Mangels, dem Gefühl, dass uns etwas fehlt. Wie stellen wir es nun an, das Gefühl des Mangels zu überwinden? Die Lösung, die die Menschheit seit jeher parat hat, ist: Wir werden aktiv! Wir verreisen, gehen ins Theater, schalten den Fernseher an, beginnen zu essen oder zu shoppen, werfen uns der nächsten Liebschaft in die Arme, zeugen Kinder, gründen Unternehmen etc. Alles nur, um der Leere zu entgehen.
Auf diese Weise entsteht eine Gesellschaft der Ablenkung, die uns immer weiter von uns selbst wegführt. Wir tun alles, um uns selbst aus dem Weg zu gehen. Denn wenn der Mensch auch nur einen Augenblick innehält, wenn er sich in Stille übt, dann muss er sich mit seinen Mängeln auseinandersetzen.
Doch es zeichnet sich für die noch unbekannten Helden ein Weg ab: die Meditation! Das ist der Schlüssel zu allem: in den Mangel eintauchen und sich mit dem Mangel hinsetzen. Denn diese Methode fußt auf der bahnbrechenden Entdeckung, dass alle Emotionen (auch die der Unzufriedenheit und des Mangels) vergänglich sind. Alles erscheint, alles vergeht, ganz natürlich. Alles, einschließlich der damit verknüpften Emotionen, vorausgesetzt man hört auf, sich an sie zu klammern und sie zu nähren, danach zu schnappen und darauf herumzukauen wie auf einem alten Knochen. Diese grundlegende Erfahrung – dass nichts von Dauer ist, auch nicht unsere Gefühle – ist es, die uns erlaubt, ruhig sitzen zu bleiben und die Stille zu kultivieren, wenn rundherum alles in Aufruhr ist.

Stille finden – Fotocredit: Maxime Caron
Gedanken, Gefühle, Alltagsspiritualität
In weiterer Folge beschäftigt sich Kankyo Tannier mit den drei verschiedenen Kategorien von Gedanken: Bildern (visuellen Vorstellungen, inneren Filmen), Klängen (dem inneren Dialog, unserer „kleinen Stimme im Kopf“) und körperlichen Empfindungen. Für all diese Kategorien führt sie eine Fülle von Übungen an, die von sehr einfachen Gedankenexperimenten bis hin zu therapeutischen, ja existentiell transformierenden Praktiken reichen. Der Leser lernt beispielsweise, seine innere Stimme ausfindig zu machen und „mit dieser zu spielen“. Er baut eine neue Beziehung zu seinem Körper auf, denn für Tannier ist die Präsenz im Körper der einzige Weg, uns ganz im gegenwärtigen Augenblick zu verankern.
Der Umgang mit den eigenen Gefühlen funktioniert dabei in Grunde genommen ebenso wie jener mit visuellen Vorstellungen oder der inneren Stimme. Stets kommt es darauf an zu registrieren und zu akzeptieren, ohne zu verurteilen, zurückzuweisen oder festzuhalten. Dieses Sein-Lassen setzt allerdings eine innere Haltung voraus: jene der bedingungslosen Liebe. Das ist der Weg einer Kriegerin, eines Kriegers, der Mut und Entschlossenheit fordert. Aber es ist auch der Weg der Versöhnung, des Abstandnehmens vom Kampf, des Annehmens von allem, was ist.
Im weiteren Verlauf ihres Buches widmet sich Tannier durchaus zeitgemäßen Themen, wie der „visuellen Umweltverschmutzung“ (Kaufhausschaufenstern, Werbetafeln, Lichtreklamen … ), der Vorherrschaft der Bildschirme, dem ethischen Einkaufen oder der vegetarischen Ernährung. Doch geht es der Autorin nicht um eine Grundsatzdiskussion oder um ein Plädoyer für die Rückkehr in die Steinzeit, sondern um einen sinnvollen Umgang mit der Wirklichkeit, wie sie sich uns im Augenblick darstellt, um die Grundsteinlegung für eine Form von Alltagsspiritualität, aus der am Ende Weisheit wird.
Der Weg der Übung
Das Geheimnis des Erfolgs liegt wie immer in der Übung! Denn um unsere inneren Abläufe zu verändern, müssen wir regelmäßig praktizieren. Das Gehirn lernt schließlich durch Wiederholung. Wird eine Handlung unzählige Male wiederholt, festigt sie die neuronalen Pfade, die dafür im Gehirn aktiviert werden. Am besten sind daher tägliche Übungen, die man als kleine Rituale in den Alltag einbauen kann.
Hier findest du vier Übungen aus dem Buch “Stille – meine buddhistische Kur für ein leichteres Leben” von Kankyo Tannier.
Übung 1: Fokus
Wenn du am Computer sitzt, richte deinen Blick auf einen Punkt, auf ein Icon oder eine andere markante Stelle auf dem Bildschirm. Lass nun deine Augen dort ruhen. Dann erweitere dein Wahrnehmungsfeld auf den Körper … und schließlich auf die Außenwelt … atme dabei tief ein und aus! Lege diese Seh-Pausen von etwa drei Minuten jede Stunde ein.
Übung 2: Achtsamkeits-Glocke
Installiere auf deinem Smartphone eine Applikation für einen Gong oder die „Achtsamkeits-Glocke“ (Mindfulness Bell). Immer wenn die Glocke erklingt, lass den Unterkiefer locker und spüre nach, was das in deinem Körper bewirkt. Jede Stunde zwei Minuten lang.
Übung 3: Erster Gedanke
Mache dir jeden Morgen deinen ersten Gedanken bewusst, gleich nachdem du aufgewacht bist und noch bevor du aus dem Bett hüpfst! Lass ihn vorübergehen, beobachte ihn … beginne den Tag bewusst!
Übung 4: Alleine essen
Iss ein- oder zweimal pro Woche ganz bewusst alleine und in Stille – einer strahlenden Stille, für die du dich bewusst entschieden hast zum Beispiel in der Mittagspause. Nimm dir die Zeit, jeden Bissen gründlich zu kauen und zu genießen. Du wirst sehen: Die Zeit bleibt stehen, und ein gewaltiger stiller Raum tut sich auf, mitten in deinem Arbeitstag.
Übung, die sich lohnt
Es kann sein, dass du für die eine oder andere Übung Zeit opfern musst. Aber: das Ergebnis ist dieses „Opfers“ wert! Denn nach einigen Stunden oder einigen Tagen beruhigt sich der Gedankenstrom. Und dann freut sich der Geist über diese wohltuende Ruhe. Normalerweise haben wir zu dem, was uns täglich widerfährt, immer etwas zu sagen. Wir reagieren darauf mit Ängsten, Wünschen, Vorstellungen, ob es sich nun um den öffentlichen Nahverkehr, die Politik oder die Arbeit handelt. Wenn man jedoch „vergisst“ diese Dinge zu äußern, verlieren sie an Bedeutung. Der Kopf wird frei von mentalen Verwicklungen.
Stille und Meditation bewirken, dass wir uns unsere Fähigkeit des Schauens zurückerobern, dass wir uns wieder anrühren lassen und damit erneut Zugang finden zu spontaner Zärtlichkeit. Kankyo Tannier ist überzeugt: Ob eine Kur nun drei Stunden dauert oder zwei Tage – Das achtsame Eintauchen in die Edle Stille durch die Pforte der Konzentration tut gut!
Zusammenfassend will dieses Buch uns dazu anregen, wieder hinzuhören: auf den Raum zwischen den Worten, die Ruhe im Sturm, das Verstreichen der Zeit. Wieder genießen zu lernen: den Geschmack des Augenblicks, den Duft einer Mahlzeit, den Schaum der Tage, die Wärme des Feuers. Wieder spüren zu lernen: die Berührung der Fingerspitzen, das pochende Herz, den Raum, der sich öffnet, die Zeit, die plötzlich stehen bleibt … eine überaus lohnende Lektüre!
Stille – Meine buddhistische Kur für ein leichteres Leben
Aus dem Französischen von Elisabeth Liebl
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 192 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-442-34235-8
€ 18,00 [D] | € 18,50 [A] | CHF 25,50* (* empfohlener Verkaufspreis)
Verlag: Arkana
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