Frustrationsmomente mit Spiegeleffekt
Sirenen in meinem Kopf. Sie dröhnen, stechen, mein Herz pocht immer schneller. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass das trotzige Schreien von Kindern dem Lärmpegel eines landenden Flugzeugs entspricht. Ich finde es schlimmer. Besonders in den Momenten, in denen meine Frustration auf die Frustration meines Kindes trifft. Keine gute Kombination.
Und doch sollte Frau als Mutter versuchen, die Nerven zu bewahren, denn, wenn ich eines gelernt habe in den letzten zwei Jahren der Mama-Schule, dann das: Kinder beruhigen sich, wenn sie Ruhe umgibt. Sobald sie spüren, dass du nervös, genervt, nicht „in der Mitte“ bist, reflektieren sie es zurück. Und meistens ziemlich deutlich.
Es ist fast unheimlich, wie fein die Antennen meines Kindes sind und wie sehr er mit mir durch das Leben schwingt. An Tagen, an denen ich gestresst aufwache (weil mir mindestens tausend Dinge durch den Kopf gehen, die mich im Laufe des Alltags erwarten), wird auch mein Kleiner mit einem raunzigen Gesicht munter und will nur mehr getragen werden. An Tagen, an denen ich versuche aus der yogischen Ruhe meiner Mitte heraus zu handeln, scheint auch er entspannter, gelassener, fröhlicher und zufriedener zu sein.
Dennoch gibt es die Momente, in denen mein Kind trotz meiner Ruhe in seine Welt der Wut, des Frustes und des unbändigen Schreiens verfällt und mich weder das tiefe Ein- noch das tiefere Ausatmen retten kann. Meist dann, wenn ich darüber bestimme, was zu tun ist. Jacke anziehen und rausgehen. Aus der Sandkiste in die Wohnung gehen, weil es draußen kalt ist. Aus der Badewanne raus und Pyjama anziehen. In den Kindersitz rein, weil wir zur Oma fahren. Wut entsteht, wenn das Ego auf einen Widerstand trifft, den es nicht bewältigen kann. Die meisten Eltern beobachten derartige Wutanfälle ab dem 2. Lebensjahr, bei Leyan waren sie teilweise schon seit dem Säuglingsalter da. Seine Persönlichkeit war schon immer sehr stark ausgeprägt und ich hatte sehr lange Probleme damit, mein Nein deutlich zu definieren. Irgendwie fühlte ich mich mit diesem Nein schlecht, hatte das Gefühl ich würde mein Kind verletzten und vor den Kopf stoßen. Doch je weniger ich Nein sagte und meine Ich-Ego Grenze nicht klar definierte, desto überforderter war ich mit der Macht meines Kindes über mein Leben. Ich war über lange Zeit wie fremdbestimmt durch die Gefühle meines Kindes und das frustrierte mich zutiefst. Je mehr ich zuließ, dass er grenzenloser wurde, desto mehr löste ich mich auf, bis ich an machen Tagen so erschöpft war, dass ich meine Koffer packen wollte, um für immer zu verschwinden.
Doch ich erkannte – und erkenne immer wieder: das, was mich frustriert und vor allem traurig machte, war nicht seine Frustration und Traurigkeit. Es war viel mehr meine Unfähigkeit ein klares Nein konsequent durchzuziehen obwohl es manchmal unangenehm Gefühle in mir auslöste. Vielleicht war ich zu einer Nicht-Nein-Sagerin geworden, um mein Kind vor Tränen zu bewahren. Weil ich wollte, dass sein Schreien, dass mich an machen Tagen in aggressive Nervenausbrüche brachte, an denen ich mit den Fäusten gegen Wände schlug, selbst immer lauter weinte und in den Polster biss, einfach nur aufhörte, weil ich es nicht mehr aushielt. Es waren die furchtbarsten und erkenntnisreichsten Momente meines Lebens. Denn durch diese Konfrontationen mit meinem Kind lernte ich, wie Grenzen auch oder gerade gegenüber den Menschen waren, die ich am meisten liebe. Wie wichtig es ist, dass es mir gut geht, damit ich geduldig und verständnisvoll mit meinem Kind umgehen kann. Und wie heilsam es ist, alle Emotionen zuzulassen und zu erkennen, dass sie alle zum Leben dazugehören. Genauso wie das Nein. Der Kinderpsychologe und Pädagoge Jesper Juul schreibt dazu: „Kleinkinder übertreten ständig die Grenzen ihrer Eltern. Ihr Verhalten dient einem doppelten Zweck: die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und die Eltern kennenzulernen. Sie wollen herausbekommen, was den Eltern gefällt und was nicht, was sie gutheißen und was sie ablehnen, worauf sie sich einlassen und was ihnen widerstrebt.“
Mit der Entwicklung meines Sohnes lerne ich täglich soviel über mich selbst. Ich lerne, Mutter und vor allem Mensch zu sein in allen Facetten. Es muss schwierig sein, als kleiner Mensch dem Willen anderer, Umständen, dem Außen zu folgen, wenn man nicht will. Wut kann als Reaktion ein Heilungsprozess sein, die Art und Weise zu verarbeiten. Genauso wie Weinen, Traurigkeit, Freude, Lachen emotionale Ausdrucksformen des Menschen sind. Heute versuche ich Leyans Wut weder umzustimmen, noch zu trösten, noch mit einer wütenderen Gegenreaktion schlimmer zu machen. Ich bin da. Umarme ihn, gebe ihm das Gefühl mit Wort und Schwingung, dass es ok ist sich auch so zu fühlen. Manchmal versuche ich mit viel Geduld und dem Aufgehen im Moment einen Kompromiss zwischen seinem Willen und meinem Willen zu finden. Auch das funktioniert sehr gut. Ich versuche ihm und mir im Alltag mehr Zeit zu geben, um zu verstehen, was da gerade passiert und auch seine Gefühle zu respektieren und anzuerkennen. An manchen Tagen funktioniert es sehr gut, an anderen wieder weniger.
Wir wachsen als Menschen mit unseren Kindern. In den Ja- und den Nein-Momenten. Solange wir dabei ehrlich mit uns selbst und unseren Kindern sind – nicht versuchen etwas zu unterdrücken, umzuformen, wegzudenken oder zu überspielen – finden wir immer einen guten Weg mit den Gefühlen unserer Kinder und unseren eigenen umzugehen. Was geht es dir im Umgang mit dir selbst und deinem Kind? Fühlst du dich damit gut, wie du mit seinen Emotionen heute umgegangen bist? Was kannst du ändern, um das Gefühl zu haben, dass es für euch beide passt?
Kinder sind Menschen. Keine in tausend Büchern beschriebenen Wesen, die wir kontrollieren müssen, damit sie so werden, wie wir sie haben wollen. Es sind Menschen, zu denen wir eine Beziehung aufbauen. Mit Respekt, Liebe, klaren Grenzen, Grenzenlosigkeit und Geduld. Viel Geduld. Täglich. Mit Ja’s und Nein’s. Und noch mehr „Ich liebe dich’s“. In dieser Beziehung haben sowohl Kind als auch Eltern Bedürfnisse. Ich denke, es ist wichtig eine Balance zwischen diesen zu finden und zu verstehen, dass auch Kinder, diese Bedürfnisse wahrnehmen und verstehen können. Wir dürfen unsere Kinder nicht unterschätzen. Denn oft verstehen sie vielmehr, als wir denken. Und sie zeigen es uns auch. Wir müssen nur wieder lernen hinzuhören, es zu sehen und es in Liebe wahrzunehmen. Und wenn es einmal nicht klappen sollte? Die nächste Möglichkeit kommt bestimmt.
Fotocredits: Nives Gobo
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