Zwanzig gängige Wortbedeutungen hat “Yoga”. Damit wird es nicht gerade leicht, der einen Wahrheit über den Begriff auf die Spur zu kommen. Dies dürfte durchaus gewollt sein, wird Wahrheit in der Yogaphilosophie doch als ein nebulös relatives Konstrukt des Geistes offenbart.
Yoga, wie wir es heute kennen, ist eine Mischung aus klassischen Yoga Asanas, Gymnastikübungen sowie britischen Militär- und Bodybuilding Übungen. Eine Praxis, die kaum älter als 150 Jahre ist. Während Yoga hierzulande mit Wellness und Entspannung in Verbindung gebracht wird und scharenweise Menschen zur Körperertüchtigung auf die Matte zieht, liegen die Wurzeln des Begriffes weder auf friedlichem Terrain noch widmen sie sich dem Bewegungskult. Es gibt vermutlich genauso viele Definitionen von Yoga wie es weltweit Yogis gibt. Doch während man den Klassiker „Yoga ist die Verbindung von Körper, Geist und Seele“ vergebens in den klassischen Yogaschriften sucht, stößt man in einigen Texten auf Ausführungen über Yogis, bei denen sich dem Leser die Pupillen weiten. Zugegeben, die Texte, in denen es richtig zur Sache geht, gehören nicht zu den populärsten Schriften. Ein Einblick in die wilden Seiten der Yoga-Historie abseits des Mainstreams lohnt sich trotzdem.
Wie weit die Bedeutungsspanne von Yoga reicht, erfährst du im Folgenden.
Vom Schlachtfeld in den Himmel mit dem Yoga-Karren
Schon in einer der ältesten Schriften der Menschheit taucht der Begriff Yoga auf. Im Rig Veda begegnet uns das Wort als die Verbindung von einem Ochsengespann und einem Streitwagen, der standesgemäß nur zu Kriegszeiten eingesetzt wurde. Hier steht Yoga in Verbindung mit Krieg statt Frieden. Metaphorisch wird es durch das Anspannen der Ochsen an den Wagen möglich, Kräfte zu bündeln, um sie in eine Richtung zu lenken. Ähnlich wie bei den auch heute noch praktizierten Techniken zur Atemlenkung handelt es sich bei solch einem Joch erstaunlicherweise um ein Vorgehen, das höchst unnatürlich ist. Heute spielt Natürlichkeit und Friedfertigkeit gegenüber Lebewesen aller Art im Yoga eine andere Rolle. Yogafotos in schönen Landschaften und Wassergeplätscher im Hintergrund der Yogastunde waren augenscheinlich aber nicht das Naturell von Yoga bei seiner Geburtsstunde.
Das Mahabharata-Epos (2. Jh.v. Chr.) bringt die Yoga-Bühne erstmalig konkret auf ein Schlachtfeld: heldenhafte Krieger, die im Kampf sterben, werden mit einem göttlichen Karren in den Himmel zu Shiva und Co. kutschiert. Yoga bezeichnet hier das Verbinden der Krieger mit dem Himmelskarren. In diesem Fall geht es also darum, sich mit etwas zu vereinen, das den Menschen zu höheren Dimensionen transportiert.
Dass Yoga also etwas mit Verbindung zu tun hat scheint von Beginn an klar zu sein. Was genau da verbunden wird, ist hingegen nicht sofort augenscheinlich.
Die Katha Upanishade löst im 3 Jh. v. Chr. das Rätsel um die Frage, was es mit dem Karren auf sich hat und schafft gleichzeitig die erste systematische Darstellung des Wortes Yoga. Unterschiedliche Bestandteile des Wagens werden mit den Werkzeugen des Menschen gleichgesetzt.
“Erkenne das Selbst als den Herrn der Kutsche. Der Leib ist der Wagen, der Intellekt der Wagenlenker und das Denken die Zügel. Die Sinne sind die Pferde, die Objekte die Wege.”
-Katha Upanishade
Falsch eingesetzt können diese Mittel den Streitwagen (Körper des Menschen) in leidbehaftete Situationen führen. In der Katha Upanishade gilt Yoga als ein Weg die Werkzeuge des Menschen nicht zum Opfer unseres Alltagsbewusstseins zu machen, sondern so auszurichten, dass sie ihn auf den Weg der Zufriedenheit führen.
Das Thema Krieg erhält auch in den heute meistzitierten Yoga-Grundlagentexten, Bhagavad Gita und Yoga Sutra, auf unterschiedliche Weise Einzug. Beide Texte sind ab dem 2. Jh. v. Chr. entstanden.
Die Bhagavad Gita reiht sich als selbstständiger Teil des Mahabharata-Epos in das Schlachtfeld-Szenario ein. Mit Hilfe einer göttlichen Yoga-Unterweisung sollen die Hemmungen des Kriegers Arjuna beseitigt werden, die den tugendhaften Heeresführer vom Kämpfen abhalten. Ihm wird mit Hilfe der Yoga-Wege offenbart, wie er sogar auf einem Kriegsgefährt zu innerem Frieden finden kann. Yoga wird damit zur Steuerungsfunktion der Instrumente, die dem Menschen zur Verfügung stehen. Ganz unabhängig davon, wie aussichtslos eine Situation ist, kann das Praktizieren von Yoga dazu verhelfen in der eigenen Mitte zu bleiben und klare Entscheidungen treffen zu können.
„Weil sich in ihr (Bhagavad Gita) so wunderbare Sätze von der innerlichen Losgelöstheit von der Welt, von der hasslosen und gütigen Gesinnung und von der liebenden Hingebung an Gott finden, pflegt man das Nicht-Ethische, das sie enthält, zu übersehen. Sie ist nicht nur das meistgelesene, sondern auch das meist idealisierte Buch der Weltliteratur.“
-Albert Schweizer
Neben Ghandi hatte diese Lektüre auch Fans im nationalsozialistischen Regime. Krieg mit der „richtigen“ Absicht wird in der Bhagavad Gita als legitimes Mittel verstanden, wenn alle anderen Möglichkeiten zur Problemlösung erschöpft sind. Natürlich sind dies gern gelesene Zeilen für Heinrich Himmler und Gefährten, um mit Hilfe der „Bibel der Hindus“ das eigene Verhalten zu rechtfertigen. Eine Portion Weisheit ist erforderlich, um verstehen zu können, was es wirklich mit dieser „richtigen“ Absicht auf sich hat.
Das Yoga Sutra hat sich nicht umsonst als beliebtestes Werk im Westen durchgesetzt, bringt es erstmalig Ordnung in die Wirren dessen, was zuvor in einer Vielzahl von Schriften übereinstimmend als Yoga bezeichnet wurde. Während die vorherigen Texte sich auf äußere Kämpfe fokussierten, verlagert das Yoga Sutra das Schlachtfeld nach innen. Es macht deutlich, womit wir tagtäglich kämpfen und wie inneres Ungleichgewicht entsteht. Gemäß diesem Weisheitstext sind es unkontrolliert umherspringende Gedanken, die den Menschen nicht zur Ruhe kommen lassen.
In den Folgejahrhunderten festigt sich das Yogaverständnis des Yoga Sutra, welches sich durch folgende Kernprinzipien auszeichnet:
– Yoga als Analyse der Wahrnehmung und Erkenntnislehre
– Yoga als Ausdehnung des Bewusstseins
– Yoga als Pfad zum allumfassenden Wissen (Sehen)
– Yoga als Technik, um übernatürliche Kräfte zu gewinnen
Yoga wird hier zu einem Experiment mit sich selbst und beinhaltet diverse Techniken, um wirklich von unwirklich zu unterscheiden. Eine Erhöhung des Bewusstseins führt dazu, dass die Welt aus einer neuen Perspektive wahrgenommen werden kann.
Durch die Verfeinerung der Wahrnehmung entstehen aus der yogischen Praxis als Nebenprodukt in indischer Tradition ganz selbstverständlich übernatürliche Kräfte. Bei uns gern als Hokuspokus abgetan sind sie in Indien genauso selbsterklärend wie für uns technischer Fortschritt.
Ein Exkurs zu einem Text der Tantra-Strömung, die Yoga im Laufe des indischen Mittelalters stark geprägt hat, gibt einen beispielhaften Einblick was mit solchen übernatürlichen Kräften gemeint ist.
Der Menüplan zur Erleuchtung kennt keinen Vegetarismus: Menschenfleisch als Hauptspeise
Die im 9. Jh. entstandene Schrift Netra Tantra beschreibt zwei ganz besondere Yogamethoden. Das sogenannte „Subtile Yoga“ beschreibt Techniken zum Eindringen in den Körper anderer Menschen, während das „Transzendente Yoga“ übermenschliche Yoginis beleuchtet, die Menschen essen. Die dadurch von Sünden gereinigten Seelen der „Vernaschten“ können mit dem Gott Shiva vereint werden und damit Erlösung erlangen.
Yoginis waren vorrangig Frauen aus niedriger Kaste, die als Verkörperungen göttlicher Wesen angesehen wurden. Aber damit nicht genug. Zusätzlich sind sie Trägerinnen der machtvollsten verbotenen Substanz: Gebärmutter- bzw. Menstruationsblut.
Das symbolische Konsumieren solcher Substanzen (Urin, Blut, Menschenfleisch) sowie die sexuelle Interaktion mit unerlaubten Partnern zählt gemäß der esoterischen Praxis des Netra Tantra zur „Fast Lane“ der Selbstvergöttlichung. Bekanntlich gilt auch heute noch in vielen Interpretationen von Yoga: die Intention ist entscheidend, nicht die Handlung selbst.
„Yoginis wurden oft porträtiert als Hexen, vieldeutige, machtvolle und gefährliche Figuren, auf die zuzugehen sich nur heldenhafte Männer wagen würden, geschweige denn sie zu erobern.“
– David Gordon White
Abseits dieser Ausnahmepraktiken ist es den tantrischen Einflüssen zu verdanken, dass Yoga in späteren Jahrhunderten über die Asana Praxis nicht nur den Geist sondern auch den Körper gesund hält. Im 14. Jh. entsteht die Hatha Yoga Pradipika, ein Quelltext mit maßgeblichem Einfluss auf das heutige Yogaverständnis. Es handelt sich dabei um das erste Werk, in dem Yoga Asanas konkret definiert werden. Die einzige Yoga-Position, die die vorherigen Schriften nennen, ist der Meditationssitz.
Letztlich soll das üben diverser Körperstellungen jedoch auch zu nichts anderem führen, als schlussendlich bequem im Meditationssitz anzukommen. Genau genommen sind alle anderen Asanas eine Umleitung für jene, deren Körper nicht sofort jubelt bei dem Gedanken an einen kreuzbeinigen Sitz. Am Ende führt alles wieder zurück zur Meditation und dem nach innen Sehen. Die Ära von äußeren Kriegen war aber auch mit der Hatha Yoga Pradipika noch nicht beendet.
Bad Yogis: Watcha gonna do when they come for you?
Zwischen dem 14.-17. Jh. hatten die aus dem shivaistischen Tantrismus kommenden Nath Yogis die Blütezeit ihres Einflusses. Sie bildeten einen der ersten religiösen Orden, der sich in militärische Kampfgruppen zusammenschloss. Im 18. Jh. hatte sich dies soweit durchgesetzt, dass der nordindische militärische Arbeitsmarkt von tausenden Yogi-Kriegern dominiert wurde. Sie waren ebenfalls berüchtigt für ihre übernatürlichen Kräfte.
Krishnamacharya, der Initiator des Yogatrends nach der britischen Kolonialzeit wurde ebenso nicht ohne militärische Hintergedanken vom Maharaja in Mysore als Yogameister eingestellt. Auch wenn sein primäres Ziel die Wiederbelebung der Yoga Tradition in Indien war, sind militärisch nutzbare Auswirkungen als Nebeneffekt nicht zu leugnen. Im Unabhängigkeitskampf gegen die britische Kolonialmacht waren in Yoga ausgebildete Soldaten mit fitten Köpfen und Körpern wertvoll und gefragt.
Der Yogi war also nicht immer ein weißes Schaf. Bis in die Moderne haben arme Menschen ihre Kinder an yogische Orden verkauft als Alternative für einen Tod durch Verhungern. Im ländlichen Indien und auch in Nepal gibt es bis heute noch den Spruch „The Yogi will come and take you away.“
Heute kommen immer wieder Debatten darüber auf, inwiefern modernes Yoga mit den traditionellen Linien übereinstimmt und wer wahrhaftiges Yoga praktiziert. Ein Blick auf die Ursprünge der Wortbedeutung bringt nicht unbedingt Klarheit in die Diskussion und das ist auch gut so.
Ob man Yoga praktiziert, weiß glücklicherweise immer nur der Übende selbst. Welche Kriege in uns während der Yogapraxis toben, bleibt unser wohlbehütetes Geheimnis. Zudem verdient der Begriff Yoga, mit den meisten Übersetzungsmöglichkeiten in der indischen Gelehrtensprache, mehr als nur eine Definition.
Jedem die seine.
Quellen:
The Sinister Yogi, David Gordon White
Yoga in Practice, David Gordon White
Yoga Body. The Origins of Modern Posture Practice, Mark Singleton
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Über die Autorin:
Nancy Krüger ist Yogalehrerin in Wien. Ihre Leidenschaft ist es, die Philosphie des Yoga für den modernen Alltag zu vermitteln. Nancy gibt ihr Wissen regelmäßig in Yoga Lehrerausbildungen weiter: www.yogalehrerausbildung.wien
Fotocredits: Ulrike Reinhold
Fotocredit Nancy Krüger: privat
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