Schweigen wird immer populärer. Und Schweigen, das ist viel mehr als nicht zu reden. Schweigen meint Stille im Kopf, Ordnung der Gedanken, einen ruhigen See in sich selbst wahrzunehmen. Neueste Forschungen bestätigen uns in unserem Anliegen, den Geist durch Schweigen zu beruhigen und vor allem aber auch unser Gehirn von Altlasten zu befreien. Das Lärmende verstummen lassen, damit sich Stille in uns ausbreiten kann; das wünschen wir uns letztlich alle und doch haben wir großen Respekt davor.
Die meisten von uns haben vielleicht schon den einen oder anderen Schweigekurs erlebt und konnten diese Wohltat, wenn es STILLER wird, bereits erfahren. Nicht ohne Grund weisen viele Traditionen wie Meditationslehrer/innen der Neuzeit darauf hin, dass das Schweigen neben der täglichen Praxis und den Reflektionen im Alltag, die 3. Säule der Meditations- und Achtsamkeitspraxis bedeutet.
Vom stillen Beschäftigen und Gedankenkinos
Viele sagen: „Still sein, das kann ich. Da brauche ich doch sicher keinen Schweigekurs.“
Doch wenn wir dieses stille Sein hinterfragen, stellen wir schnell fest, dass wir uns mit Vielerlei ablenken. Da sind wir in Gedanken und Ideen, hören Musik, schauen fern, beschäftigen uns mit dem Handy, surfen auf vielen Belanglosigkeiten im Internet, lesen, chatten, posten ein Bild oder einen Kommentar, gehen unseren Hobbies nach. In den meisten Fällen machen wir irgendetwas, tun alles, um dann doch keine Zeit mit unserem Kopf, unseren Gedanken zu verbringen, setzen uns regelrechten Beschäftigungsqual aus. Und dennoch: unsere Gedanken überfallen uns manchmal gnadenlos und führen uns in die unglaublichsten Geschichten. Sie schaffen es sogar, uns in emotionale Ab- und Tiefgründe zu entführen. Ohne diese geistesgegenwärtig zu hinterfragen, glauben wir dann oftmals tatsächlich, sie seien real. Selbst im Schlaf denken und fantasieren wir. Träume – bewusst oder unbewusst – verstricken uns ständig in im neue Geschichten. So funktioniert in uns ein perfektes Perpeteuum-Mobile. Das kostet Kraft, muss ständig genährt werden, führt ein Leben wie die Made im Speck. Doch nur solange bis wir nicht mehr alles glauben, was wir denken, bis wir bewusst werden.
Mindestens 80% unserer Lebensenergie verbringen wir mit Denken. Das ist auch nicht weiter tragisch. Es ist durchaus sinnvoll, dass der Mensch seinen Kopf zum Denken benutzt. Außer, wir definieren uns zu sehr dadurch und halten alles, was wir denken, für wahr. Die Vorstellung, dass wir nicht sind, was wir denken und dass der größte Teil unserer Gedanken sich selbst produziert, scheint uns unmöglich. Und so identifizieren wir uns ständig mit unseren Kopfgeburten, den Filmen unseres Gedankenkinos tragischer noch: wir ziehen Schlussfolgerungen daraus! Dies ist zweifelsohne ein Leben in latentem Wahnsinn. Und nur weil es alle tun, wird es nicht normaler. Wir können täglich sehen, welche Auswirkungen das hat. Rückenblickend auf viele Phasen menschlicher Existenz, ein bis heute ungenügend reflektierter Prozess. Dies sei die Normalität, denken wir!
Im Außen wird uns seit jeher gespiegelt, wozu Menschen aus tiefsten Überzeugungen und Irrungen fähig sind. Kommen wir jedoch zur Ruhe, können diese erst als störend und sogar bedrohlich empfunden werden. Unser Nervensystem ist ständig auf Hochtouren, auf Angriff oder Verteidigung, auf Vorsicht und Schnelligkeit programmiert. So geraten wir in Diabalancen und sind meist dauerhaft „außer uns“.
Von außen nach innen
In einer Zeit, in der es „in“ ist, im „Außen“ zu verbringen, keine Zeit zu haben und ständig „busy“ zu sein, glauben wir oftmals, an persönlicher Bedeutung und Wichtigkeit zu gewinnen, wenn wir ständig außer Atem sind. Doch das hat ganz sicher seinen Preis. In einer Online-Gesellschaft in der persönliche Abgrenzung herausfordernd ist bis gänzlich fehlt, wird es nur zwei Möglichkeiten geben: die eine ist das Opfern der Illusionären-Persönlichkeit, dem ständigen Rennen nach Ablenkung und der Bestätigungssucht im Außen. Die andere Möglichkeit ist ein nach INNEN gerichteter Achtsamkeitsfokus. Und hier kann jeder selbst die alte Kultur des Schweigens entdecken und mal mutig seiner eigenen Innenwelt begegnen und sich selber die Erlaubnis erteilen, sich auszuhalten, so wie man ist.
Den meisten fällt es anfangs schwer, sich selbst zu ertragen und auf die vielen Ablenkungsmöglichkeiten des Körpers nicht zu reagieren, der uns mit Juckreiz, Knie- oder Rückenschmerzen und vielen anderen Phänomenen, an der Erfahrung der Stille hindert. Es gibt wunderbare aktive Meditationsformen die es gestatten den Körper mal richtig durchzuschütteln, sodass wir in die Stillen-Phasen eintauchen können.
Dies hat neurophysiologisch einen ganz einfachen Grund. Stress an sich ist nicht schädlich, im Gegenteil benötigen wir ihn sogar, um uns in Bewegung zu setzen, um zu gestalten, zu agieren, Dinge zu bewältigen und anzuschieben, um freudig und lebendig zu sein. Dies ist die Aufgabe des sympathischen Nervensystems, der Sonnenenergie. Das parasympathische Nervensystem ist hingegen die ausgleichende Balance, die Mondenergie. Und genau diese Seite befindet sich derzeit bei den meisten von uns in einer Unterversorgung.
Reset-Button im Knopf
Stille und Meditation sind von Anbeginn aneinander gekoppelt und dennoch in ihrer Zugangsqualität unterschiedlich. In den Schweige-Retreats werden keine Mantren gesprochen, keine geführten und zentrierenden Werkzeuge eingesetzt, was ja in vielen Meditationstraditionen der Fall ist. Stille will erlebt, gehört und gespürt werden. Allein die Aufmerksamkeit auf den Moment und die Atmung gerichtet, führen uns tief in unsere eigene Stille hinein. Es ist daher zu empfehlen sich langsam dem Schweigen zu nähern und sich von erfahren Lehrer/innen begleiten zu lassen, die den Weg ins Labyrinth der Stille mit ihrer eigenen Stille begleiten können. Dies macht einen Zugang ohne störende Ablenkungen möglich. Denn wir selber wissen meist Anfangs nicht was Störungen und Widerstände sind. Wir halten all das für eher normal und uns zugehörig. Die Ablenkungsvarianten des Verstandes sind ohne gleichen und die der vorgetäuschten Gefühlswelten- und Emotionalebenen sind ebenfalls erfinderisch.
Die Stille ist einfach nur die Stille, sie breitet sich allmählich in uns aus, bis sie unser Sein völlig erfasst und ausfüllt. Wir bleiben stets präsent. Voll und ganz anwesend untersuchen wir die verschiedensten Erscheinungsformen der Stille. Ihre Qualitäten, ihren unverwechselbaren Klang, ihre umhüllende Wärme, ihre klirrende Kälte, ihre unendliche Liebe.
Ein Schweige-Retreat kann uns etwas zutiefst Religiöses entdecken lassen. Kann uns berührend tief in die Stille der Existenz begleiten und unsere eigene Spiritualität wahrnehmen.
Schweigen will gelernt sein, Schweigen will erlernt werden. Es ist eine Art von Kultivierung oder auch Erziehung des Geistes zur Stille. Ein Fasten der Gedanken. Ein Reset-Button im Kopf. Ein Löschen unserer Festplatte um neue Speicherkapazitäten zu schaffen. Ein Entmüllen von alten und unbrauchbaren Erinnerungen, falschen Informationen, Irrläufern und überflüssigen Glaubensätzen. So wie unser Körper manchmal durch Viruserkrankungen gereinigt wird, reinigen wir mit der Kultivierung des Schweigens unseren Geist. Und der Geist? Er wird begeistert sein …
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Über die Autorin:
Marion Hötzel ist Meditations- und Achtsamkeits- Lehrerin, Nervus-Vagus-Trainerin, sowie ausgebildet in phänomenologischer Psychologie, Gestalttherapie und Schattenintegration verschiedene YOGA-Stile und Körperpsychologie. Sie wurde in den 1950iger Jahren in Deutschland geboren und lebt seit 2003 in Salzburg, wo sie gemeinsam mit ihrem Mann Bernhard das ZENtrum Mondsee – eine Schule für Achtsamkeit und Meditation – leitet. Hier wird Meditation jenseits von Philosophien und religiösen Überzeugungen vermittelt und in verschiedene Ausbildungen weitergegeben. Wichtig für beide ist dabei die Alltagstauglichkeit und das „völlig normale LEBEN“
Hier findest du mehr zu den Angeboten im ZENtrum Mondsee
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Fotocredits: Lena Raubaum
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