Jeder Mensch, der lebt, macht Fehler. Durchlebt Misserfolge. Stolpert. Fällt. Aber wie mit dem sogenannten Scheitern umgehen? Was kann uns im Annehmen von Niederlagen helfen? Dazu schreibt hier Lena Raubaum.
Scheitern – etwas Gutes?
“Das Leben ist eine hatscherte Angelegenheit“, schreibt Eva Karel in ihrem Buch „Om, Oida – Yoga ohne Maskerade“.
Das Leben hatscht, es hinkt. Selbst zig Yogastunden, zig Bücher, Podcasts oder Kurse rund um das fragile Konstrukt „Persönlichkeit“ ändern nichts daran, dass wir auf Wegen des Erschaffens auch mal scheitern – genauso wie in unserem Dasein als menschliche Wesen. Schöpfungsprozesse können zu Erschöpfungsprozessen werden, in kleinerem wie größerem Ausmaß.
Eine Idee geht nicht so auf, wie man sich das gedacht hat. Ein Haus brennt über Nacht ab. Eine Beziehung zerbricht. Eine unheilbare Krankheit bestimmt mit einem Mal den Alltag. Ein werdendes Kind verabschiedet sich im Mutterleib. Eine lang aufgebaute Existenz geht den reißenden Strom runter.
Diese Beispiele sind nicht danach gereiht, wie groß welches „Scheitern“ ist. Schmerz ist Schmerz. Und was ein Mensch mit Leichtigkeit trägt, kann einen anderen in die Knie zwingen. Scheitern tut weh. Egal, ob man sagt, das Geschehene sei eine „Herausforderung“ oder „Prüfung“. Egal, ob man weiß oder zu hören bekommt: „Das hat sicher was Gutes.“

Fragen zum Versagen
Scheitern gehört zum Leben. Damit erzähle ich nichts Neues. Jede und jeder ist sich wohl dessen bewusst. Trotzdem wird es eher als „falsch“ oder gar „Versagen“ eingeordnet.
Und es tauchen Fragen auf wie: „Was hätte ich anders machen können?“, „Wie, wo oder wann hä e ich was verhindern können?“ oder „Wieso passiert das ausgerechnet mir?“ Diese Fragen stellen wir uns selten, wenn alles gut geht, oder? Sie tauchen eher auf, wenn etwas „schief “ gegangen ist. Vor allem dann, wenn es keine offensichtliche Erklärung für das gibt, was du zu tragen hast. Vor allem dann, wenn du getan hast, was du konntest, und doch „alles richtig“ gemacht hast …
Gehen, Hinfallen, Aufstehen, Nochmal
Ich glaube, wer auch immer seine Ärmel raufkrempelt und sich ins weite Land der Weiterentwicklung begibt – also lebt –, wird in seinem Lebenslauf damit konfrontiert, dass er oder sie hinfällt. Von klein auf ist dem so. Weißt du, wie viele Schritte und Stürze du als Kind gemacht hast, bis du aufrecht gehen konntest? Die Entwicklungspsychologin Karen Adolph von der Universität New York filmte mit ihrem Team im Rahmen einer Studie Hunderte von Menschen im Alter von elf bis 14 Monaten. (Quelle: Karen Adolph et al (2012). How Do You Learn to Walk? Thousands of Steps and Dozens of Falls per Day, Psychological Science)
Dabei fand sie heraus, dass ein Kind dieses Alters in etwa sechs Stunden 14.000 Schritte macht und dabei etwa 100 Mal fällt. „Kleinkinder üben wirklich unglaublich lange“, schreibt Adolph. Und je mehr sie üben, desto weiter gehen sie und desto seltener fallen sie hin.!
Wir dürfen üben
Das Gehen zu lernen … hört das jemals auf? Haben wir nicht auch bei unseren Entwicklungsschritten das Recht, üben zu dürfen? Ich habe das Gefühl, dass das Wort „Tun“ allzu oft als Synonym für „Können“ verwendet wird. Sobald wir oder andere von uns erwarten, dass wir GLEICH ALLES können, werden viele mutige Steps nicht nur mit Euphorie, Neugier, der Lust am Lernen und neuen Erkenntnissen begleitet, sondern auch von Ängsten, verkrampftem und verbissenem Handeln, Frustration, Fehlern und schließlich Vorwürfen.
Was würde passieren, wenn jeder Gehen lernende Mensch beim ersten Hinfallen beschließen würde: „Na bumms. Das kann ich also nicht. Dann bleib ich lieber, wo ich bin“? Richtig. Wir alle würden noch krabbeln.
Wie jedoch damit umgehen, wenn wir bei Entwicklungsschritten hinfallen oder uns einer Situation stellen müssen, die „so nicht geplant war“? Was tun in den Momenten, die wir uns „ganz anders vorgestellt haben“? Darauf kann ich nur antworten:
Ich weiß es nicht. Nicht konkret. Viele Fragen im Leben, die meisten, haben komplexere Antworten und können nicht abgehandelt werden mit einer Anleitung à la „10 Dinge, die du hier zu tun hast“. Vor allem in Bezug auf die Beispiele vom Anfang braucht wohl jede Situation individuelles Kümmern, individuelle Auseinandersetzung. Gleichzeitig gibt es meiner Erfahrung nach auch Bewältigungsstrategien, die auf eine Vielzahl von „Scheiter-Haufen“ zutreffen.

Gefühle fühlen & Verantwortung
Ich glaube beispielsweise daran, dass es zunächst helfen kann, jegliche Gefühlsregung, die durch ein sogenanntes Scheitern ausgelöst wird, wahrzunehmen – Verzweiflung, Trauer, Angst, Wut. Ich glaube auch daran, dass es helfen kann, nach einer Zeit des Trauerns und Wütendseins eine Situation zu akzeptieren, wie sie ist, und Verantwortung zu übernehmen, wo sie sich übernehmen lässt.
Hilfe annehmen
Ich glaube auch daran, dass wir uns Hilfe holen und sie akzeptieren dürfen – durch Menschen, die uns lieben, Menschen, die dasselbe durchgemacht haben, Menschen, die uns professionell zur Seite stehen.
Scheitern ist menschlich
Ich glaube auch daran, dass es wichtig ist, sich daran zu erinnern, dass man durch eine Niederlage als Mensch nicht an Wert verliert; du bleibst du – mit oder ohne Haus, mit oder ohne Kind, mit oder ohne deine Arbeit, die du verloren hast. Ich schreibe „ich glaube“, weil ich selbst immer noch am Lernen im Leben bin. Tatsächliche Überzeugungen vermag ich wohl erst am Ende meines Daseins preiszugeben. Dann schreibe ich diesen Text dann einfach noch einmal neu …
Lektionen im Ich-Sein
Es gibt da noch etwas, woran ich glaube. Ich glaube daran, dass wir aus Situationen, die wir uns wirklich „ganz anders gewünscht hätten“, lernen können. Ob, wie viel, was, in welchem Tempo und auf welche Art und Weise, das ist jedem und jeder selbst überlassen. Was wir jedoch ganz bestimmt lernen, ist: mehr über uns selbst, mehr über die hatschert hinkenden Seiten des Lebens, mehr über unseren eigenen Umgang damit. Und genauso gut können wir Qualitäten lernen, die wir uns als Menschen durchaus in die Hosentasche stecken können: Akzeptanz. Loslassen. Vertrauen. Demut. Denn ALLES haben wir wirklich nicht in der Hand, da können wir noch so sehr visualisieren und Yoga praktizieren …
Wirklich gescheitert sind wir dann, wenn wir uns nicht mehr erheben. Und so, wie ein Kind wieder aufsteht, weitergeht, fällt, weitergeht und dadurch Gehen lernt, darfst auch du dich bitte nicht unterkriegen lassen. Scheitern tut weh, hinterlässt Narben und: kann Heilung bringen. Es geht weiter und DU gehst weiter. Ein bisschen aufrechter.
Ich zitiere hier erneut Eva Karel in ihrem Buch “Om, Oida – Yoga ohne Maskerade“: „Die menschliche Existenz gibt es nun mal nicht in Hochglanzausgabe. Sondern lediglich im leicht abgegriffenen, etwas zerrupften, aber deswegen eben sympathischen Second-Hand-Format. Und das ist gut. Weil wir keine Roboter sind, weil menschliche Perfektion nicht existiert.“
Mögen wir uns alle gegenseitig und auch selbst ein bisschen menschlicher behandeln. Vor allem in den Situationen des Lebens in denen wir Lebenslaufen lernen …
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