Woran liegt es, dass die Yamas und Niyamas in punkto Aufmerksamkeit so stiefmütterlich behandelt werden? Werden sie vielleicht zu dogmatisch interpretiert und gelehrt oder sind sie ganz einfach nicht mehr zeitgemäß? Wir haben auf der Suche nach einer Erklärung Arjuna P. Nathschläger um eine Antwort gebeten. Er praktiziert selbst seit vielen Jahren täglich Yoga, ist Gründer und Leiter der Yoga-Akademie Austria, einer Schule für Yogalehreraus- und -weiterbildungen im klassischen ganzheitlichen Yoga in Österreich. Er wurde 1996 in den USA von der Sivananda Yoga Vedanta Forest Academy zum Yoga-Lehrer ausgebildet. Seit 2000 unterrichtet Arjuna haupt-beruflich Yoga und bildet seit 2001 Yoga-Lehrer in ganz Österreich aus. Er ist Autor mehrerer Yoga-Bücher, Bodywork Trainer, Spiritueller Lebensberater und Meditationslehrer mit Autorisierung zur Mantra-Weihe und Vergabe spiritueller Namen.
Iris Weiland hat sich mit Arjuna über die Yamas & Niyamas unterhalten …
yoga.ZEIT: Welches Ziel haben die Yamas und Niyamas für den Yoga-Praktizierenden?
Arjuna: Es geht bei den Yamas und Niyamas im Grunde um die Reinigung innerer energetischer Muster, die den Menschen in der Bindung halten. Die Yamas machen uns frei von Tamas (Unreinheit) und Rajas (Unruhe). Bestimmte energetisch-psychische Muster halten den Menschen in der Bindung fest. Vor allem die Yamas sind Verbote oder Ordnungskriterien, die dem Menschen helfen, sich innerlich zu reinigen. Dadurch wird der Einzelne bereit, sowohl erfolgreich zu meditieren als auch im Alltag mehr Harmonie und Freude zu erfahren. Während die Yamas darauf abzielen, negative Energien zu reduzieren, konzentrieren sich die Niyamas auf das Stärken positiver Kräfte wie Reinheit und Zufriedenheit im Menschen.
yoga.ZEIT: Warum hat Patanjali die Niyamas separat angeführt, anstatt sie einfach zu den Yamas hinzuzufügen?
Arjuna: Die Yamas haben die Aufgabe, eine bestimmte Energie zu reduzieren. Es sind Vorschriften, die etwas auflösen sollen. Man kann sich das vorstellen wie die Neugestaltung eines Raumes. Man muss zuerst Altes ausräumen, um etwas Neues hineinstellen zu können. Das Ausräumen würde den Yamas entsprechen, das Aufbauen den Niyamas.
Weiters reinigen und transformieren die Yamas die Interaktion zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, während die Niyamas Gebote sind, die mehr das Innere des Menschen betreffen. Daraus erklärt sich der unterschiedliche Charakter und die gesonderte Auflistung. Die Yamas und Niyamas bilden die ersten Stufen einer Persönlichkeitsentwicklung, die immer tiefer in das Selbst hineingeht. Yamas wie „du sollst nicht töten, … stehlen, … lügen, …“ sind die Grundlage für das Auflösen von Energien, die uns am stärksten an der Entfaltung unserer Persönlichkeit behindern. Bei den Niyamas geht es um den Aufbau von positiven Kräften wie der Reinheit, der Zufriedenheit, der inneren Kraft, etc. Die Yamas und Niyamas sind im Kontext des achtgliedrigen Yoga-Pfades betrachtet eine Vorbereitung und Hinführung auf eine erfolgreiche Meditation oder meditative Arbeit.
yoga.ZEIT: Kann man die Reihenfolge der Yamas und Niyamas beliebig verändern beziehungsweise gibt es eine Logik der Reihenfolge der Yamas und Niyamas?
Arjuna: Ich habe sie in vier Gruppen geteilt, also die Yamas in zwei Gruppen und die Niyamas in zwei.
Die erste Gruppe der Yamas reduziert Tamas und die zweite Rajas. Ahimsa, Satya und Asteya – diese drei reduzieren Tamas. Sich vom Impuls des Verletzen- und Vernichten-Wollens, vom Impuls, es anderen heimzuzahlen, zu lösen – dies bedeutet Ahimsa und ist klar Tamas-reduzierend; Satya, die Wahrhaftigkeit, ist ganz besonders wichtig. Sivananda hat einmal über Satya gesagt: „Wenn man mich fragt, was das Wesentliche im Yoga ist, dann sage ich Satya. Es ist nicht nur das Wichtigste, sondern das Einzige.“ Sat bedeutet das Sein, das absolute Sein – Satya ist die innige Verbundenheit mit dem wirklichen Sein und diese innerliche Verpflichtung zum Wirklichen ist etwas Zentrales im Yoga.
Brahmacharya, die Mäßigung im sinnlich-sexuellen Bereich, und Aparigraha, im Sinne des Nicht-Immer-Mehr-Wollens, reduzieren die rajasigen Energien.
Bei den Niyamas wollen Saucha und Samtosha ganz bestimmte positive geistige Züge stärken: Saucha bedeutet innere Reinheit – dieses Prinzip findet man in allen Yoga-Wegen wie im Hatha Yoga zum Beispiel in den Shatkriyas. Samtosha (Zufriedenheit) verbindet sich mit Aparigraha (Gierlosigkeit), als Prinzip der Zufriedenheit, als das dankbare Annehmen dessen, was jetzt da ist.
Die nächsten drei, Tapas, Svadhyaya und Ishvara-Pranidhana, also das Stärken des inneren Feuers, das Selbststudium und die Hingabe an Gott sind ebenfalls eine Einheit – am Beginn des 2. Kapitels der Yoga-Sutras fasst Patanjali diese drei Elemente zum so genannten Kriya-Yoga, dem Yoga des praktischen Handelns, zusammen.
yoga.ZEIT: Das erste der Yamas ist Ahimsa – oft übersetzt als Gewaltlosigkeit oder Nicht-Verletzen. Wie weit geht Ahimsa für dich, wie vermittelst du es deinen Schülern?
Arjuna: Ich sehe all diese Prinzipien nicht so sehr oder nicht nur als Gebote, an die man sich halten soll, um etwas Bestimmtes zu bewirken, sondern es geht um grundlegende Energien, die sich in Form der Yamas und Niyamas äußern. Es geht um eine innere Transformation, die sich im Nicht-Verletzen, Nicht-Töten äußert. Die Arbeit an den Yamas und Niyamas sollte durch Achtsamkeit und Selbstbeobachtung gestärkt werden. Zum Beispiel wenn ich eine Gelse erschlagen möchte – darf ich, oder darf ich nicht?
yoga.ZEIT: Darf ich?
Arjuna: (lacht) Das kommt darauf an. Sukadev (Volker Bretz, der Gründer und Leiter von Yoga Vidya) hat gesagt, er gönnt ihr den Blutstropfen. Ich denke, es ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Wenn du in Ahimsa gefestigt bist, wirst du sie wohl lediglich verscheuchen.
yoga.ZEIT: Ahimsa erstreckt sich ja nicht nur auf die Taten, sondern auch auf die Worte, die Gedanken und Gefühle. Ist Ahimsa nicht auch eine Herzensqualität?
Arjuna: Man kann, während man äußerlich oder an der Oberfläche Ahimsa lebt, dennoch am Gesetz des Ahimsa vorbeigehen, aber gleichzeitig im Inneren noch immer von Himsa erfüllt sein. Ich versuche, nach außen niemanden zu verletzen, aber innerlich bin ich voller Hass, voll negativer Energien. Es sollte uns darum gehen, Ahimsa von innen her zu leben, als eine Herzensqualität. Ich persönlich versuche, Ahimsa durch Achtsamkeit, durch Selbstbeobachtung und Bewusstmachung zu leben; wichtig ist es auch, sich in andere hineinzuversetzen und ihnen aufmerksam zuzuhören, aber es ist natürlich ein lebenslanges Lernen.
yoga.ZEIT: Kontroversielle Ansichten gibt es ja auch zu Brahmacharya. Wäre Brahmacharya – oftmals als Keuschheit interpretiert – nicht gerade in unserer modernen Welt ein Thema – Sex wohin das Auge blickt? Ist Mäßigung oder Keuschheit als Gebot zeitgemäß oder doch lebensfremd? Wie vermittelst du Brahmacharya deinen Schülern?
Arjuna: Brahmacharya ist eine Begriff, der in so vielen Sichtweisen und Facetten betrachtet und diskutiert werden kann. Brahamacharya muss im Zusammenhang mit den Purusharthas und den Lebensphasen, den Ashramas, gesehen werden. Es hat in jeder Lebensphase des Menschen eine unterschiedliche Bedeutung. In Brahmacharya, der Kindheit/Jugend, die den gleichen Namen hat, spielt Sexualität noch keine Rolle. Grihasta ist die Zeit des „Haushälters“: Gründung einer Familie, Berufstätigkeit usw; hier bedeutet Brahmacharya Treue und Mäßigung. Ganz strenge Sichtweisen erlauben Sexualität hier nur zum Zeugen der Nachkommenschaft. Ich denke aber, dass man Sexualität auch vor den Wagen des Yoga spannen kann – die Sexualkraft ist eine mächtige Energie, die, richtig eingesetzt, den Menschen in seiner Entwicklung sehr fördern kann. Die Gefahr besteht jedoch, dass man relativ leicht aus der Spiritualität abgleiten kann und sich ganz „im Weltlichen“ verliert. Der Grundgedanke des Brahmacharya als sowohl sexuelle Mäßigung und Treue bis hin zur Enthaltsamkeit als auch der Mäßigung der Sinnestätigkeit allgemein liegt darin, dass dadurch die mächtigen Energien, genannt Virya, zu spiritueller Energie, genannt Ojas, umgeformt werden – Brahmacharya ist spirituelle Alchimie!
yoga.ZEIT: Brahmacharya heißt ja auch sich in Brahman bewegen …
Arjuna: Das ist eine weitere Sichtweise. Brahmacharya setzt sich aus den beiden Begriffen brahma und acharya zusammen. Brahma bzw. Brahman ist das göttliche Prinzip, und acharya bedeutet „sich bewegen in“. So können wir Brahmacharya sehen als ein „Sich im göttlichen Bewusstsein bewegen“. Da das menschliche Bewusstsein eines der Dualität und der Polarität ist und damit auch das Feld der Sexualität, das ja auf dem Vereinen zweier Pole beruht, können wir das göttliche Bewusstsein sehen als ein Bewusstsein, das die menschliche Form und damit auch die Sexualität übersteigt bzw. transzendiert.
yoga.ZEIT: Birgt das Propagieren von Enthaltsamkeit nicht die Gefahr eines Quells der Spannung? Stichwort Kirche … wenn Praktizierenden von oben ein Dogma übergestülpt wird, an das sie sich zu halten haben.
Arjuna: Ich glaube, es müsste das Unterdrücken und Verbieten ersetzt werden durch den Prozess des Bewusstwerdens. Das heißt, dass ich durch das Bewusstmachen der Energien, der Spannung, wenn sexuelle Lust da ist, tiefer in die Wahrnehmung dessen, was geschieht, hineingelangen kann. Dieses Bewusstwerden ist der Quell der Umformung der sexuellen Energien. Brahmacharya soll ein Resultat, ein Ausdruck der inneren Veränderung sein, genau wie Ahimsa. Durch das Nachdenken über die Yamas und Niyamas wollen wir erreichen, dass man sich Gedanken macht und vor allem spürt, was diese Gebote und Verbote im persönlichen Leben und Erleben bedeuten und bewirken können.
yoga.ZEIT: Auf dem Übungsweg der Yamas und Niyamas kann sich auch so manche Falle auftun. Vor allem bei den Niyamas – ich denke hier an Saucha, das kann sich zu einem Putzfimmel auswachsen, oder bei Tapas, dass man in seinem Umfeld zu missionieren beginnt, etc. Wie siehst du das?
Arjuna: Dazu braucht man dann sehr gute Lehrer, die dem Schüler genau das bewusst machen und erklären, wie jedes einzelne Yama oder Niyama gemeint ist, was es wirklich bedeutet. Die Menschen tendieren, solange sie das Grundprinzip, das hinter den einzelnen Yamas und Niyamas steht, nicht verstanden haben, dazu, nur den Buchstaben nach zu leben.
yoga.ZEIT: Warum glaubst du, werden die Yamas und Niyamas von den Yoga-Praktizierenden so wenig wahrgenommen? Wie könnte man sie populärer, salonfähiger oder “Yoga-Raum-fähiger” machen?
Arjuna: Ich denke, dass vor allem bei uns im Westen der körperliche Aspekt des Yoga sehr stark dominiert. In vielen Yoga-Kursen werden nur Körperübungen gemacht, kaum Meditation und es gibt keine Vorträge und Erklärungen zu den Grundgedanken des Yoga. Damit bleibt dieses Wissen sehr im Hintergrund. Es wird an den Yogalehrerinnen und Yogalehrern liegen, das faszinierende Wissen nicht nur über Yama und Niyama, sondern über die Hintergründe aller Yoga-Wege, wie die Geheimnisse der Kundalini-Energie, des Advaita Vedanta, den Zauber des Bhakti Yoga und die Yoga-Psychologie des Patanjali, begeistert und begeisternd hinüberzubringen. Wichtig wird es sein, die Philosophie des Yoga stets in Bezug zum Alltag, zum persönlichen Leben zu stellen, sodass man erkennen kann, dass sie einem in jedem Augenblick des Lebens, in jeder Situation helfen kann – Yoga-Philosophie ist keine trockene oder akademische Spekulation, sondern auf das direkteste mit dem Leben verbunden!
yoga.ZEIT: Sind die Yamas und Niyamas zeitgemäße ethische Regeln oder lebensfremde Dogmen?
Arjuna: Sie sind absolut zeitgemäß. Die Form, wie etwas gelebt wird, kann variieren, aber der Grundgedanke ist zeitlos. Es sind Grundwerte des menschlichen Lebens, die vollkommen zeitlos sind. Lebbar machen können wir sie durch Aufklärung, durch Bewusstmachung und durch Erklären der Zusammenhänge.
yoga.ZEIT: Danke vielmals für dieses Gespräch!
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