Aufrecht – so sollte unsere Haltung im besten Fall sein. Aber wie entwickeln wir überhaupt eine aufrechte Haltung? Und wie kann eine gesunde, aufrechte Haltung von Kindesbeinen an gefördert werden? Darüber schreibt hier yoga.ZEIT Gastautorin und Physiotherapeutin Veronika Winter.
Aufrichten – das hat viel mit Alter, Biomechanik, Hebeln und Muskeln zu tun. Auch das Klima und sogar unsere Lebensgewohnheiten verändern unsere Körperhaltung.
Darüber hinaus hat Wachsen und das Entwickeln einer aufrechten Haltung viel mit dem richtigen Zeitpunkt zu tun! Es braucht eben nicht nur Muskelkraft um „aufrecht“ durch das Leben zu gehen. Yoga kann dieses Wachsen gut begleiten. Denn Yoga richtet sich immer nach dem Menschen und holt ihn dort ab wo er gerade in seiner Entwicklung steht. Der Yogaweg zeigt Möglichkeiten auf an Fehlern zu wachsen, Selbstvertrauen, innere Stärke und eine liebevolle Selbstakzeptanz entwickeln.

Der lange Weg zur Aufrichtung
Vom Affen zum Menschen, von allen Vieren bis zum aufrechten Gang war es ein langer Weg. Faszinierend, wie sich unser Skelett über Jahrtausende an Klima und Lebensgewohnheiten ideal angepasst hat. Wie sich die Wirbelsäule, die Hüftgelenke, die Füße, die Hände, ja, sogar unser Verdauungssystem langsam umgebaut haben. Die Wirbelsäule entwickelte mit den Jahrtausenden ihre S- Form mit genau der passenden Anzahl an Wirbel in den einzelnen Wirbelsäulen-Abschnitten. Ideal um die Balance zu halten, Stöße abzufedern und Bewegungen in alle Richtungen zu ermöglichen.
Meru Danda, wird die Wirbelsäule im Yoga genannt. Ja, sie ist die Trägerin des Lebens. Sie schützt das zentrale Nervensystem, ist Sitz des vegetativen Nervensystems, die Rippen halten sich an ihr an und sie bietet uns die ideale Mischung aus Stabilität und Beweglichkeit. Unsere Haltemuskulatur hat die Aufgabe die Wirbelsäule zu stützen und zu bewegen. Sitzen oder einseitiger Sport macht Muskeln „dumm“. Sie vergessen was ihre eigentliche Aufgabe ist. Sie können bald nur noch das Eine, der Rest wird vergessen. Use it or lose it, nach diesem Prinzip geht der Körper vor. Im Yoga wird der Körper geschult in alle Richtungen beweglich zu bleiben, so bleiben Muskeln„intelligent“. Die Wirbelsäule wird stabil und beweglich erhalten, eine geniale Mischung! Das ist nur einer der Aspekte, der Yoga zu einem idealen Ausgleich im Alltag macht.

Es ist wirklich kein Zufall, daß der Mensch sich aufgerichtet hat … Ja, es gibt einfach keine bessere Haltung für den Mensch als “Krone der Schöpfung”. Wirklich? Unsere Lebensgewohnheiten ändern sich andauernd, so wie das Klima. Die Evolution geht weiter, aber wohin?
Die Haltung der Zukunft
Im Laufe der letzten 150 Jahre haben Industrialisierung und Digitalisierung unsere Arbeitsprozesse, Freizeit und Familiensysteme stark verändert. Manch ein Genforscher oder manch eine Genforscherin sieht sogar Veränderungen in den Genen in Bezug auf unsere Haltung. Vererben wir also schlechte Haltung?
Zu wenig oder falsche Bewegung, zu viel Sitzen, Stress, falsche Ernährung. Alles schon gehört und alles Faktoren, die eine große Gefahr, nicht nur für unseren Bewegungsapparat, sondern für das gesamte Körpersystem und unsere Psyche darstellen. Das geht nicht nur uns etwas an, sondern wird auch die nachfolgenden Generationen beschäftigen. Genau aus diesem Grund ist es essentiell sich gesund zu bewegen.
Gravierende Folgen von Fehlhaltungen
Rundrücken, Hallux Valgus, Schmerzen, Durchblutungsstörungen, Diabetes mellitus Typ 2, Konzentrationsschwächen, die Liste ist lang. Kinderärzt*innen und Pädagog*innen beobachten immer öfter Haltungsfehler und Konzentrationsstörungen bei Grundschüler*innen. Ein ernstes Problem. Die Spirale dreht sich nach unten. Dabei beginnt alles so kinderleicht …
Wie alles beginnt
Mit der Geburt stellt sich das gesamtes Körpersystem darauf ein, hier auf der Erde zu bleiben. Lunge, Kreislauf, Muskeln, Knochen, Nerven, alles spielt hier mit und passt sich den neuen Gegebenheiten ganz von alleine an.
Die Schwerkraft beginnt auf den kleinen Körper zu wirken. Und damit beginnt der Prozess der sogenannten Vertikalisierung, der Aufrichtung. Harte Arbeit, denn im Mutterbauch floatet er fast schwerelos wie ein kleiner Astronaut im Fruchtwasser. In den folgenden drei Lebensmonaten ist der Säugling damit beschäftigt, die Schwerkraft zu erfahren. Mit jedem Tag werden Babies kräftiger, erfahrener und damit geschickter. Ihr innerster Antrieb ist ihre „Neugier“ sich selbst und die Welt zu begreifen. Mit allen Sinnen. Das ist wie ein Motor, der läuft und läuft. Babies fahren auf Autopilot, alles hat seinen richtigen Zeitpunkt
Die ersten Lebensjahren stehen ganz im Zeichen des Wurzelchakra. Liebe, Vertrauen, Urinstinkte, Überleben, Leben, das sind die wichtigsten Säulen der ersten Lebensjahre. Ist das Baby satt – damit meine auch satt an Liebe – entwickelt es eine intrinsische Neugier auf sich und die Welt. Dieses Entdecken passiert über Bewegung.
Es braucht viel Bewegung um Muskulatur aufzubauen und die Knochen stabil zu machen. Und Babies bewegen sich selbst im Schlaf viel. Das Aufrichten gegen die Schwerkraft beginnt schon früh. Dieses Baby ist circa drei Monate alt und stützt sich in Bauchlage hoch. Wichtiges Training für zum Beispiel alle Rückenstrecker.

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Der gesamte Halte und Stützapparat wird also mit jeder Bewegung weiter ausgebildet und auf das Stehen vorbereitet. Babies haben 18 Monate Zeit für diesen Prozess.
Aufrichtung – ein Kinderspiel?
Der Gehbeginn ist idealmotorisch mit 18 Monaten definiert. Jetzt braucht es starke Rumpfmuskeln um diese Haltung zu stabilisieren. Circa 250 Muskeln sind daran beteiligt! Die Bauch- und Rückenmuskeln, Nacken und Kopfmuskulatur, der Beckenboden, die Hüftmuskeln, ja sogar das Zwerchfell müssen gut und richtig arbeiten.
Kein Säugling geht auf seinen zwei Beinen, bevor er nicht gerobbt oder gekrabbelt ist. Damit werden die Muskeln trainiert und auf das spätere Stehen und Gehen vorbereitet. Krabbeln ist ein ganz wichtiger Entwicklungsschritt, denn hier wird die Kreuzkoordination geübt, die dann beim Gehen wesentlich ist. Auch die wechselseitige Ansteuerung der rechten und linken Gehirnhälfte ist beim Krabbeln gefordert was für Konzentration und Koordination wichtig ist.
Auch im Yoga gibt es viele Techniken, die sich nach diesem „Kreuzprinzip“ orientieren. Im Drehsitz zum Beispiel wird das Gehen imitiert. Das Standbein ist gestreckt der Oberkörper dreht in Richtung gebeugtes Spielbein. Hier lässt sich sehr gut die schräge Bauch,-und Rückenmuskulatur und damit die Beweglichkeit der Wirbelsäule trainieren.
Mein Tipp:
Babies nicht zu lange in Babywippen, Tragetücher oder Sitzschalen setzen. Hier ist Abwechslung gefragt. Flach auf einer Unterlage am Boden zu strampeln ist wichtig, um die Muskulatur zu stärken!
Wie das Gehen in Gang kommt
Das Gangbild wird wesentlich von der Fähigkeit sich aufzurichten beeinflusst. Ein Kleinkind hat noch eine Beugehaltung in den Hüftgelenken, dadurch ein nach vorne gekipptes Becken, ein physiologisches Hohlkreuz, X- Beine und Knickfüße. Für dieses Alter normal, aber einfach noch anstrengend. Deshalb wechseln viele Kleinkinder zu Beginn noch zwischen Gehen und Krabbeln.

Mein Tipp
Barfuß laufen ist wichtig für die Fußmuskeln und die Wahrnehmung. Zu Hause sind keine Lauflernschuhe nötig. Aufpassen beim Schuheinkauf, denn oft werden Schuhe zu eng oder zu weit gekauft. Am besten regelmäßig kontrollieren, ob der Schuh noch passt.
Ideale Aufrichtung ist kinderleicht
Wie sieht „ideal“ aus? Das Becken ruht in einer harmonischen Mittelstellung. Hier befindet sich der körperliche Schwerpunkt. Das ist für alle Bewegungen und unser Gleichgewicht enorm wichtig. Nur so kann sich die Wirbelsäule an einer inneren Lotlinie orientieren und gesund bleiben. Sie kommt mit circa 7 Jahren in eine sogenannte Längsspannung, ausgerichtet zwischen Kopf und Becken und entwickelt ihre typische S- Form. Der Kopf kann frei bewegt werden.
Auch die Drehrichtung der Beine und Füße wird wesentlich von dieser Beckenstellung beeinflusst. Zu Beginn X- beine und Knickfüße, wachsen sich auch diese wachstumsbedingten Fehlhaltungen von selbst aus.
Und selbst dann gibt es immer wieder wachstumsbedingte Haltungsschwächen. Das sollte „automatisch“ erfolgen, wird allerdings durch endogene Faktoren (erbliche Veranlagung) und exogene Faktoren (Sitzen) beeinflusst.
Yoga orientiert sich auch hier nach dem jeweiligen Entwicklungsalter, denn wie schon zuvor erklärt, gibt es große Unterschiede bei Kindern; betrachtet man zu Beispiel Koordination, Geschicklichkeit oder Gleichgewicht bei 3-Jährigen und 7-Jährigen. Standpositionen, die die Balance fördern, werden von einem 3-jährigen Kind nie so ausdauernd geübt werden können, wie von einem 7-jährigen Kind. Auch das Anleiten der Asanas variiert mit dem Alter. Das alles und noch mehr gilt es im Yoga mit Kindern zu berücksichtigen. Aus diesem Grund gibt es Ausbildungen und Workshops, die sich speziell mit Kinderyoga beschäftigen. Weil Kinder keine MINI-Erwachsenen sind!
Schulkind: das Problem mit dem Sitzen
Durch viel einseitiges Sitzen auf Sesseln beginnen die Hüftbeuger (vor allem der M.iliospsoas) zu verkürzen. Für den aufrechten Gang ist jedoch zusätzlich eine 20-30 Grad Hüftstreckung notwendig. Sonst kompensiert das Becken und kippt aus der gesunden Mittelstellung wieder nach vor. Die Folgen: die Lendenwirbelsäule wird bei jedem Schritt in ein Hohlkreuz gestaucht! Das wiederum bedeutet eine einseitige Belastung der Bandscheiben und des Hüftknorpels. Das ist ein Risikofaktor für Bandscheibenvorfälle im späteren Leben. Auch unsere Rumpfmuskulatur „schläft“ ein, wenn sie nicht ausreichend zum Einsatz kommt.

Meine Tipps:
Bewegen, bewegen, bewegen!
- auf korrekte Sitzhaltung und gutes Licht achten
- Abwechselnd auf einen Sessel, ein Bosu oder einen Pezziball setzen
- Alle 30 min. aufstehen, durchstrecken, Wasser trinken gehen …
- Bücher in Bauchlage auf dem Boden lesen
- Tanzen! Am besten 2 min. zu deinem Lieblingslied durch das Zimmer
- Viel an die frische Luft gehen
- Zwischendurch im Alltag ein paar Hampelmänner machen
- Yoga üben

Diese kleinen Tipps können viel bewirken und sind vor allem für zu Hause oder für die Schule gedacht.
Natürlich ist es wichtig sich so richtig mit Freude durchzubewegen. Da hat jedes Kind andere Vorlieben und Stärken. Meine Tochter liebt das Jonglieren (das ich übrigens auch wärmstens empfehlen kann.) Das eine ist ein Sprinter, das andere eher ausdauernd. Mit sportmotorischen Tests lassen sich diese Stärken und Interessen gut herausfiltern. Meine Kinder haben das beim Team der Sportanalytik Austria gemacht und hatten viel Spaß dabei.
Ich habe in der Einleitung gemeint, daß Wachsen auch ein „innerer“ Prozess ist. Im Kinderyoga können spielerisch und ohne Druck Themen wie Selbstachtung, Anstrengungsbereitschaft oder Fürsorge für sich und andere erlernt werden. Der Yoga selbst bietet viele passende Mantras, Achtsamkeitsübungen oder Asanas an. Viele Themen im Yoga mit Kindern, findet man auch in der Entwicklungspsychologie. Zum Beispiel das Prinzip der Freiwilligkeit oder auch der Selbstwirksamkeit. Alles wesentliche Erfahrungsquellen, die Yoga bieten kann.
Haltungsschwächen – Haltungs”fehler”
Im Laufe der Entwicklung gibt es vorübergehende, wachstumsbedingte Fehlhaltungen. Das Hormonsystem, die Muskeln, die Knochen, das Gehirn, Das HKL System, die gesamte Biomechanik ist im Wandel, permanent. Bis zum 18. Lebensjahr wächst und entwickelt sich der Körper.
Was ist also noch “normal“?
- Knickfüße bis maximal 8 Jahre
- „Hohlkreuzhaltung“ bis circa 7 Jahren.
Während des Wachstums gibt es bestimmte „Deadlines“. Bis dahin hat der Körper Zeit sich „auszuwachsen“, sich spontan zu korrigieren. Dieser gesunde Rahmen wird auch im Yoga berücksichtigt. Falls Auffälligkeiten da sind, immer beobachten, ob diese vorübergehend ist, oder sich in vielen Asanas manifestiert. Zum Beispiel ein Hohlkreuz. Kann es aktiv „aufgelöst“ werden? Als KinderyogalehrerIn kann ich aufmerksam sein und mich dann mit einem Spezialisten kurzschließen. Keine eigenständigen Diagnosen stellen oder Therapien anleiten. Das ist nicht die Aufgabe von Yogalehrern! Dauert eine Haltungsschwäche über die „Deadline“ hinaus an, oder geht sie, auch davor schon, über den gesunden Rahmen hinaus, muss sie ärztlich abgeklärt werden! Physiotherapie hilft zum Beispiel gesundes Bewegen wieder zu erlernen und Haltungsschwächen gezielt zu verbessern.

Im Yoga und auch im täglichen Leben ist das Ziel gesundes Bewegung von Kindheit an ein Leben lang zu erhalten. Freude, Neugier und das Wissen um die Anatomie bei Kindern ist dabei sehr hilfreich.

Über Veronika Winter
Veronika Winter ist diplomierte Physiotherapeutin und Expertin für therapeutisches Yoga mit knapp 20 Jahren Berufserfahrung, u.a. am AKH Wien. Als Gründerin von Anatomie kinderleicht leitet sie Anatomie KIDS und Yoga Anatomie KIDS und hält Vorträge und Workshops für Pädagog*innen, Trainer*innen und interessierte Eltern. Veronika Winter „übersetzt“ in ihren Workshops komplexe Themen wie Anatomie und motorische Entwicklung. „ Gesundes Bewegen von Kindheit an, ein Leben lang, wird immer wichtiger.“ Hier geht es auch um die Prävention von Haltungsfehlern. Hier können Pädagog*innen genauso wie Eltern viel tun.“ Und genau darum geht es bei Anatomie kinderleicht.
Speziell für Kinderyogalehrer*innen hat Veronika Winter Yoga Anatomie KIDS entwickelt, in welchem zusätzlich zu den Grundlagen der Anatomie und Bewegungsentwicklung, auch das altersgerechte Anpassen von Asanas erlernt wird.
Aktuelle Kurse & Seminare mit Veronika Winter und mehr findest du unter www.2balance.at/seminare
Anatomie kinderleicht – Info-Videos von und mit Veronika Winter zum Thema
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