Sitara E. Eggeling sagt über sie: „Sie bilden die Brücke zwischen den Göttern, dem Kosmos und dem eigenen Fühlen der uns innewohnenden Kraft. Sie greifen auf spirituelle Energien in uns und um uns zurück. Sie laden dazu ein, durch Versenkung die Reise nach Innen anzutreten, zum Kern allen Seins, in dem sich die Einheit von Selbst und Kosmos offenbart.“ Die Rede ist von Yantras, geometrischen Diagrammen, die traditionell in Ritualen und Meditationen verwendet werden. Was hat es damit auf sich? Warum geht von ihnen eine solche Kraft aus? Wie werden sie für uns begreifbar?
Das Wort Yantra besteht aus der Wurzelsilbe yam- („stützen“ oder „halten“) und der Silbe -tra, die sich von „trana“ ableitet, was soviel wie „Befreiung von Anhaftungen“ bedeutet. Ergo bewahrt ein Yantra eine Essenz, während es sie gleichzeitig befreit. Während ein Mantra beispielsweise das Göttliche in Lauten darstellt, bringt es ein Yantra in eine geometrische Figur, in eine formvollendete Form.
Wie wirkt nun ein Yantra auf den menschlichen Organismus? Auf der physischen Ebene passiert Folgendes: Ein Yantra wird durch das Auge wahrgenommen. Dort befinden sich Zellen auf der Netzhaut, die ankommende Signale ans Sehzentrum übertragen. Das Rezeptorenfeld dieser Zellen ist kreisförmig und symmetrisch. Es hat also eine ähnliche Form wie ein Yantra und spricht somit sehr gut auf das kreisförmige Muster an.
Und was geschieht auf der psychischen Ebene? Yantras haben eine archetypische Formensprache, die – so heißt es – den Weisen des Hinduismus in Visionen offenbart wurde. Sie basiert auf deren Intuition über den menschlichen Geist, auf der Verbindung zu den feinen Energiekanälen (Nadis) und dem menschlichen Bedürfnis nach Symbolen. Yantras – genauso wie Mandalas – transformieren psychische Energien in uns und verhelfen uns so zu einem sinnhafteren, glücklicheren Leben.
Achtung, Magie!
In tantrischen Quellen liegt ein sehr umfangreiches traditionelles Wissen darüber, wann, wie, wo und womit man ein Yantra herstellen und anwenden kann. Am Besten wird ein Yantra nur im Sinne von „Shanti Karma“, also für friedliche Zwecke eingesetzt. Ähnlichkeiten mit einem magischen Ritual sind nicht zu übersehen. Wer es ganz genau nimmt, bezieht auch das dazu passende Mantra, den optimalen Zeitpunkt, exakte Monddaten, Wochentage und Himmelsrichtungen mit ein, um ein Yantra zum höchsten Wirken zu bringen: beispielsweise zur Erlangung von Frieden, Wohlbefinden und Glück. Aber auch Prestige, Ruhm und Respekt können manifestiert werden.
Es gibt viele verschiedene Yantras. Die im Westen bekannteste Form ist wohl die des Shakta-Yantras. Das Sri-Yantra, das Machtvollste unter ihnen, sieht man mittlerweile überall auf T-Shirts, Wasserflaschen oder anderen Konsumartikeln. Eine traditionelle indische Quelle besagt, dass es demjenigen Unglück bringe, der diese Symbole außerhalb des rituellen Kontexts präsentiert. Aufgeklärte Inder negieren das. Möge das jeder für sich selbst entscheiden.
Ruediger Dahlke erklärt in seinem Buch „Mandalas der Welt“, dass das Grundmuster eines Yantras der Kreis (das Göttliche, Unendliche) inmitten eines Quadrats (des Materiellen und Endlichen) sei. Zudem seien vier Tore Teil der Darstellung, die durch zwei übereinandergelegte Swastikas (Sonnenräder) gebildet würden – das rechtsdrehende stehe für die aufbauende Kraft, das linksdrehende für die zerstörende Kraft. Durch ihr ausgeglichenes Zusammenspiel auf der Ebene der materiellen Welt würden Tore entstehen, die wiederum ins Innere, ins heilige Eine führen würden. Und das Eine ist wiederum ein Punkt, ein Kreis.
Der Zweck heiligt die Mitte
Apropos Kreis: Da gibt es ja auch noch eine zweite Gruppe von Bildern. Auch sie fallen in den Bereich spiritueller Geometrie, sind jedoch nicht von der zur Ehrfurcht gebietenden rituellen Aura umgeben, sondern werden im Westen gut und gern mit Ausmalbüchern und Meditation für Kinder verbunden. Die Rede ist von: Mandalas.
Was ist ein Mandala und warum steckt mehr darin als vielleicht vermutet? Nun, das Wort „Mandala“ stammt aus dem Sanskrit, bedeutet „Kreis“ und findet sich in allen Kulturen – nicht nur in der indischen. Man kann es durchaus als universelles, religiöses Symbol bezeichnen; denken Sie nur an Rosetten in Kathedralen oder das Yin-Yang-Symbol. Der Mittelpunkt entspricht dem Ursprung, dem metaphysischen Zentrum aller sichtbaren Natur. Das Mandala kann Extreme vereinigen, Widersprüche aufheben, Polaritäten ausgleichen. Wie eben auch das Yin-Yang-Symbol, in dem sich Aktives und Passives vereinen und jedes Element sich noch einmal im Kern des anderen findet.
Am allerbesten ist es bei aller Theorie jedoch, die Wirkung eines Mandalas selbst zu entdecken. Denn Yoga ist vor allem eine Erfahrungswissenschaft, um das Göttliche im Selbst wahrzunehmen und den Zugang zur eigenen Intuition zu ermöglichen.
Ich selbst bin ausgebildete Grafikerin und Illustratorin und fand durch Zufall in eine Mandalawerkstatt. Anfangs hielt ich das für eine Beschäftigung für Kinder, besuchte die Workshops aber dennoch immer wieder, ja wöchentlich. Ich bekam für einen Obolus Bleistifte, Buntstifte, Farben und Pinsel, Zirkel und Lineal in die Hand gedrückt und durfte die Welt jedes Mal(en) auf dem Papier neu entdecken.
Die Mitte finden, den Kreis um die Mitte ziehen und den Kreis unterteilen – die einzige Vorgabe war es, um den Mittelpunkt symmetrische Muster anzulegen und dabei intuitiv, mutig und frei zu sein.
Diese Art des Mandala-Malens erfordert keine künstlerischen Vorkenntnisse, und wenn man sie hat, darf man sie getrost vergessen. Hier geht es nicht um Spitzenleistungen, sondern darum, Erwartungshaltungen loszulassen, dem zu folgen, was gerade entstehen will, und mit den Möglichkeiten zu arbeiten, die man gerade hat. Man darf sich voller Vertrauen führen lassen. Eine Vorgehensweise, die sich durchaus auf das eigene Leben übertragen lässt und auf Papier im kleinen, geschützten Rahmen gefahrlos lebt und beobachtet werden kann. Eine unglaubliche Fülle an Möglichkeiten tut sich vor einem auf.
Da merkt dann der „Geübte“, wie hoch seine Ansprüche an sich selbst sind. Der zum Perfektionismus Neigende sieht die Verlangsamung seiner Arbeit durch diese Eigenschaft klar vor Augen. Der „Macher“ wird unruhig und mag gar nicht so kleinteilig arbeiten. Der Ängstliche zweifelt, ob er auch alles richtig macht, und am Ende sind alle überrascht über das Ergebnis: ein ganz persönlicher, eigener Weg und individueller Ausdruck.
Ich durfte in meinen eigenen Workshops, die ich in der Yogastadt Bad Meinberg zum Thema Mandala halte, beobachten, wie selbstkritische Karrierefrauen aus ihrem stressigen Alltag traten, zuerst noch unaufhörlich über Erledigungen redeten und mit allmählich zunehmender Versenkung in ihr Mandala immer stiller wurden. Über einen längeren Zeitraum, aber auch punktuell ausgeführt ist Mandala-Malen eine yogische Übung in Zentrierung und Konzentration (Dhyana).
Wer sich auf den Prozess der Vertiefung einlässt, wird möglicherweise offen für neue Ideen, gnädiger zu vermeintlich im Verlauf gemachten Fehlern und viel erfolgreicher darin, diese zu integrieren. Und verlässt sogar die Form des Kreises hin zu ganz neuen Figuren …
Aha. Und all das steckt in einem einfachen Kreisbild? Ja! Also auf zur kreativen Entdeckungsreise, oder wie der Gründer des integralen Yoga, Sir Aurobindu, sagte: „Ein Gramm Praxis ist mehr als tausend Tonnen Theorie.“ Genießen Sie Ihre Begegnungen mit den Symbolen des Kosmos.
Text: CLAUDIA UCKEL