Das Leben pulsiert auf jeder Ebene, in jeder Qualität. Pulsiert es schnell, nehmen wir die Materie als fest wahr, andere Schwingungen begreifen wir als Gefühl, Emotion und Regung. Ein harmonischer Klang hat periodische Wellenmuster, während Disharmonien unterbrochene, ja chaotische Strukturen aufweisen.
Mit unserer Asanapraxis bewegen wir die Lebensenergie bis in jede Zelle und in jedes Molekül, wir fühlen uns lebendig und verbunden, sind in der Lage, im Hier und Jetzt, in Harmonie und Einklang anzukommen. Pranayama bietet uns die Möglichkeit einer subtileren Wahrnehmung von Schwingung. Die Atmung schafft nicht nur die Verbindung mit unseren Gefühlen und Emotionen, sondern auch die Verbindung mit unserer Umwelt. Je feiner der Atem (Kevala Kumbhaka), desto klarer die Wahrnehmung und desto intensiver die Verbindung zur Wahrheit.
Sakshi Bhav is watching you
Die Quantenphysik hat es längst erkannt: Licht verhält sich wie ein Teilchen, Materie wie eine Welle, die Grenzen zwischen Untersuchungsgegenstand und Beobachter scheinen zu verschwimmen. Das kennen wir Yogis doch von irgendwoher! Das „Beobachtete“ braucht einen „Beobachter“, um wahrgenommen zu werden. Verbindet sich der Beobachtende mit dem Beobachteten, werden die Grenzen weicher. Hinter dem Beobachteten steht Sakshi Bhav – der losgelöste Beobachter, das Prinzip hinter den Wahrnehmungsorganen. Sakshi Bhav bewertet und beurteilt nicht, sondern nimmt einfach nur wahr, nimmt einfach nur auf. Ein Beispiel: Trifft eine Lichtfrequenz auf das Auge, leitet es die Information ans Gehirn, und ein Bild entsteht. Um dieses Bild zu interpretieren, kommt der Geist ins Spiel. Aber auch der Geist, die Gedanken können beobachtet werden. Mit anderen Worten: Sakshi Bhav steht hinter dem Geist und vermittelt ausschließlich die Realität, soweit sie von unserem Bewusstsein wahrgenommen werden kann.
Aber wie begegnen wir Sakshi Bhav? Das Leben stellt uns unseren Beobachter immer wieder vor, doch der Geist ist meist nicht besonders daran interessiert, seine Interpretationen zur Ruhe zu bringen und einfach das, was ist, zu erleben. Lieber befassen wir uns mit Wünschen und Abneigungen oder sind damit beschäftigt, angenehme Sinneseindrücke zu sammeln. In Extremsituationen (bei Schock oder auch bei einem besonders erfreulichen Erlebnis) haben wir den Eindruck, gar nicht richtig an der Situation beteiligt zu sein – quasi neben uns zu stehen und uns zu beobachten. Jede Kleinigkeit wird wahrgenommen, und es hat den Anschein, als würde die Zeit viel langsamer vergehen. Der Moment zum Beispiel, wenn man erkennt, dass man mit dem Fahrrad gleich stürzen wird, bis zu dem Moment, wenn es tatsächlich passiert, wird in gefühlten Minuten wahrgenommen. Heißt das, unsere Zeitwahrnehmung ist von unserem Geisteszustand abhängig? Auf jeden Fall ist es oft sinnvoll, in extremen Situationen richtig und kontrolliert zu entscheiden. Aber wollen wir das nicht immer? Deshalb ist es ratsam, seinen Geist entsprechend zu trainieren, um ihn bei Bedarf auf „Standby“ schalten zu können und die absolute Realität und deren Konsequenzen blitzschnell zu realisieren.
War eine Yogastunde für uns gut, harmonisch und stimmig, sind wir in der Endentspannung in der Lage, den Geist völlig zur Ruhe zu bringen und den Beobachter – Sakshi Bhav – abzurufen. Gerade diese paar Minuten Yoga Nidra können uns bei wesentlichen Entscheidungen helfen oder schicken uns Geistesblitze, die sonst im Alltagsgeschäft untergehen.
Vieles im Universum ist also in Wellen und Spiralen organisiert – vom Mikro- bis in den Makrokosmos, von Atomen zu Galaxien, von Muskelgruppen bis zum DNS-Strang, vom Gemütszustand bis zum Wetter.
Offensichtlich braucht unser Geist Bewegung und Dualität, um sich selbst wahrzunehmen. Ginge die Sonne nie unter, hätten wir keinen Ausdruck für die Nacht und wohl auch nicht für den Tag. Wozu auch? Wir müssen uns ab und an mal schlecht fühlen, um dann einen guten Tag so richtig genießen zu können. In beiden Situationen arbeiten
Sinne und Gedanken auf Hoch- touren. Nur in der Mitte – da finden wir Sakshi Bhav, den Beobachter, der die uninterpretierte Realität und damit die absolute Wahrheit vermitteln kann. Diese Mitte zu finden ist ein wesentliches Ergebnis der regelmäßigen Yogapraxis. So kann der Yogi bewusst einen neutralen, aber trotzdem konzentrierten, acht- samen und mitfühlenden Geisteszustand erlangen.
Um diese Mitte zu finden, müssen wir – zumindest vorübergehend – unsere Vergleichsreferenzen aufgeben, uns nicht über und durch die Außenwelt definieren. Am Ufer eines sehr breiten Flusses stehend sagt uns die Wahrnehmung, wie schnell oder langsam das Wasser fließt. Befinden wir uns in der Mitte des Flusses – befinden wir uns im Fluss –, ohne das Ufer sehen zu können, fehlen uns Referenzen. Ob der Fluss schnell oder langsam fließt, wird unwichtig, denn wir fließen mit ihm. Wir schalten sozusagen unsere Vergleichsreferenzen bewusst aus und lassen uns auf die Geschwindigkeit des Flusses und seine Wellenlänge ein. Die Unruhe im Geist verschwindet, denn wir können uns den Wellen voll hingeben.
Von Patanjali bis Alltag
Laut Patanjali (Y.S. 1.41) ist die Besänftigung der normalen Unruhe im Geist (ksinavrtteh) die Voraussetzung für eine Meditation. Innerhalb des Ashtanga arbeitet Patanjali drei Aspekte der Meditation heraus: Den ersten Schritt nennt er dharana – die stabile Konzentration auf ein Objekt oder ein Konzept (Güte, Gelassenheit, Lebens- kraft usw.). Darauf aufbauend folgt dhyana – der Prozess der Kontinuität in der Konzentration. Die Geistesaktivitäten stellen einen kontinuierlichen Fluss zum und mit dem Meditationsobjekt her. Schließlich wird die vollkommene Erkenntnis – samadhi – erreicht (Y.S. 3.3.). Die Geisteswellen (chitta) verschwinden, und das Meditationsobjekt leuchtet (nirbha- sam). Der Beobachtende und das Beobachtete verschmelzen. Diese drei Schritte werden (Y.S. 3.4) als samyama bezeichnet.
Mit einem EEG können die Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche gemessen werden. Abhängig davon, in welchem Zustand sich ein Mensch befindet (z.B. aufgeregt, entspannt, schlafend), schwingen seine Gehirnwellen in unter- schiedlichen Frequenzbändern (beispielsweise Alpha-Wellen im entspannten Zustand). Und genau diese Schwingungen stimulieren wir im Yoga bewusst, um einen zufriedenen Geisteszustand zu erlangen.
Was bedeutet das für den Alltag?
Jeder hatte sicher schon mal das Gefühl, in seiner Arbeit oder Aktivität voll aufzugehen! Nicht „rausgebracht“ werden zu wollen. Ein Hochgefühl, nach dem jeder Künstler und jede Künstlerin süchtig werden kann. Nachweislich gleichen sich Schwingungen an, wenn man den Geist in eine Richtung lenkt. Wir springen nicht nur in den Fluss, wir lassen uns in die Mitte des Flusses treiben. Bei einem netten Gespräch mit Freund/innen etwa werden alle Umgebungsfaktoren ausgeblendet. Irgendwann fällt der Blick auf die Uhr, und ein „Was? Schon so spät?“ entweicht dem Mund. Oder auch bei einer erfüllenden Beschäftigung, zum Beispiel beim Musizieren, Malen oder Schreiben, erlangen wir plötzlich extreme Produktivität und Motivation. Wir tauchen in einen so genannten Flow-Zustand ein, eine geistige Sonderleistung, die nicht erst durch Mihály Csíkszentmihályi entdeckt wurde, sondern auch schon im alten Indien bekannt war.
Der Philosoph Douglas Brooks erzählt gerne von seinem Lehrer, der meinte: „Nimm die Vrittis – die Gedankenwellen – wahr und mache Wellen der Schönheit daraus.“ Wenn wir lernen, uns in diesen zu bewegen, ändert sich unser Leben. Wir nehmen es in die Hand, tragen gewissenhaft Verantwortung dafür und sagen Ja zu jeder denkbaren Chance, die sich uns bietet. In den Wellen der Schönheit liegt das Geschenk, das wir mit unserem Leben mitgeliefert er- halten haben. Das Geschenk des unendlichen Bewusstseins, der Kraft der Klangmanifestation. So sind wir in der Lage, das für uns „Richtige“ wahrzunehmen und zu leben – beschwingt, beglückt und liebevoll beobachtet.
Wusstest du dass …
… die Farbe weinrot der Mönche im Grundton der Erde „G“ schwingt?
… manche Menschen – sogenannte Synästheten – Klänge in Farben sehen?
… unser Körper und seine Zellen im Kammerton 432 Hz schwingen? Er gleicht auch unsere Gehirnhälften aus, was seelische Stabilität bewirkt und die spirituelle Weiterentwicklung verstärkt.
… Sumerer, Ägypter und Griechen ihre Instrumente auf 432 Hz stimmten, bis die Römer das verboten. Mozart und Verdi hingegen bestanden darauf, dass ihre Musikstücke in 432 Hz gespielt wurden.
… mittels der Sprechstimme festgestellt werden kann, welche Talente, Fähigkeiten und Stärken man in die Wiege gelegt bekam und welche davon genutzt werden?
Illustration: Anja Gasser
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