Kalymnos morgens:
An der Schlüsselstelle meiner Route stockt mir der Atem. Die Füße stehen wackelig, drohen auf den „viel zu kleinen“ Tritten am Fels zittrig zu werden. Ich atme durch, spüre wieder Ruhe und Kraft, erinnere mich daran, dass ich sicher und gesichert bin. Beherzt greife ich in das kleine Loch in der Wand, steige noch einmal hoch an und wachse schier über mich hinaus. Was ich jetzt denke? Ich weiß es nicht.
Kalymnos 18:30 Uhr:
Das Licht wird sanfter, hüllt die Natur in ein Orange-Rot. Mit jeder Faser meines Körpers genieße ich die Yogaübungen auf der Matte, scheine noch immer den rauen Stein auf meinen Fingerspitzen zu fühlen, höre mich selbst und die anderen atmen. Nächste Übung: herabschauender Hund, und die Gruppe lacht. Als Kletterer waren wir heute schon „wilde Hunde“, als Yogis sind wir nun herabschauende Hunde. Das ist wohl des Pudels Kern! Ich spüre die Abendluft um mich und Zufriedenheit in mir. Was ich jetzt denke? Das weiß ich nicht. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass ich heute über mich selbst hinausgewachsen bin.
Yoga und Klettern – ein Lebensgefühl im Flow
Klettern und „zum wilden Hund Werden“ ist mehr als nur eine Sportart. Es ist ein Lebensgefühl voller Freiheit, Naturverbundenheit, Körperlichkeit, mentaler Stärke, Konzentration und einer Portion Unerschrockenheit. Zudem geht es um das Erreichen eines gewissen Flow-Zustands, des Gefühls der völligen Vertiefung und des Aufgehens in einer Tätigkeit. Viele Kletterer kennen diesen Moment der Selbst- und Zeitvergessenheit, wenn die Route die ganze Aufmerksamkeit erfordert – jede Bewegung wird harmonisch und mühelos. Um sich bei einer Aufgabe in den Zustand des Flows zu versetzen, muss die Anforderung so hoch sein, dass sie die volle Konzentration braucht, gleichzeitig aber nicht überfordern darf. Kommt uns das nicht auch ein bisschen aus dem Yoga bekannt vor?
Klettern in Verbindung mit Yoga führt zu schnellerer Regeneration durch Entspannung, mehr Flexibilität bei den Kletterzügen, kontrollierter Körperspannung, bewusstem Einsatz von Atmung und beeindruckender mentaler Stärke. Prominentes Beispiel für einen Kletteryogi ist der Amerikaner Chris Sharma. Er gilt als Ausnahmetalent im Sportklettern, wurde zum Idol vieler Felsakrobaten und absolvierte weltweit viele der schwierigsten Erstbegehungen. Yogamatte und Karabiner wurden ihm quasi in die Wiege gelegt. Der indische Yogameister Baba Hari Dass war weiser Lehrmeister seiner Eltern und gab Chris seinen Zweitnamen Omprakash („heiliges Licht“).
Felsakrobatik im Urlaub
Wer Klettern durch Yoga oder Yoga durch Klettern ergänzen oder beides unbedingt mal ausprobieren möchte, der könnte sich zum Beispiel wie ich auf einen Yoga-Kletter-Urlaub begeben. Griechenland, Frankreich, Österreich, Portugal, Sardinien, die Schweiz, Spanien, Italien, Kroatien – Urlaubsziele für einen Yoga- und Kletterurlaub gibt es genug. Und dabei habe ich nur mal Europa angeführt; weltweit wäre die Liste noch länger (um Indien als das „Yogaland“ auch noch aus dem Köcher zu ziehen, gebe ich Hampi als Insidertipp ab!).
Kletterneuling wie Kletterprofi kommen durch ein abgestimmtes Programm auf ihre Kosten. Yoga dient dabei entweder als perfektes Aufwärm- und Konzentrationstraining vor dem Einstieg in die jeweilige Route, als Entspannungsphase zwischendurch oder als „Cool-Down-Element“ am Abend. Gezielte Übungen lockern verspannte Muskelpartien, sanfte Dehnungsübungen öffnen das Becken und machen die Spannweite der Arme so enorm, dass man die ganze Welt umschließen könnte. Manch einer meint vielleicht, dass beim Klettern die Kraft alleine zählt. Doch wirklich wichtig ist Technik! Körperschwerpunkt, Beinarbeit, Entlastung der Armkraft – das zählt. Wer sich dann nicht durch verspannte Muskulatur, Versteifungen oder Panik selbst blockiert, wird hoch hinauf-kommen.
In der Yogapraxis stehen der bewusste Umgang mit dem Körper und der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung im Mittelpunkt. Eine komplette Asanapraxis konzentriert sich auf den Atem, regt das gesamte Meridiansystem an, gleicht Dysbalancen aus und wirkt wie eine Ganzkörpermassage – eine Wohltat nach dem Klettertraining oder zwischendurch. Durch ausgewählte Umkehrhaltungen am Ende der Praxis und die abschließende Endentspannung in Savasana werden der Lymphabfluss, der Abtransport der Stoffwechselprodukte und die Regeneration stark gefördert.
Yoga ist der perfekte Trainingspartner beim Klettern und umgekehrt. Klettern verlangt nach Vertrauen in uns selbst, den Mut, auch mal loszulassen, sich fallen zu lassen und sich mutig dem sichernden Seil und der Kraft der Seilschaft hinzugeben. Klettern ist Yoga. Nur anders. Und jedenfalls einen Versuch wert. Und vor allem tut es einfach gut, ein wilder und herabschauender Hund zu sein, der in sich ruht und über sich hinauswächst.
Weiterführende Links zu “Yoga und Klettern”:
Buch-Tipp zu “Yoga und Klettern”:
Mihály Csíkszentmihályi, Flow im Sport, blv Verlag
ISBN-13: 978-3405158781
Fotocredit Sujetbild: Vincenzo di Giorgi
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