Etwa 100.000 Österreicher*innen leiden laut der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft an einer demenziellen Erkrankung. 2050 wird diese Zahl auf etwa 230.000 angestiegen sein. Yogalehrerin Natalie Stenzel unterrichtet seit Jahren demenziell veränderte Menschen. Doch wie kann Yoga Demenzerkrankten helfen? Was gilt es zu beachten, wenn man mit Menschen, die Alzheimer oder andere Formen der Demenz haben, Yoga übt? Darüber und mehr sprach yoga.ZEIT mit Natalie Stenzel.
Natalie, du unterrichtest Yoga für Menschen mit Demenz. Wie kam es dazu? Was hat dich dazu bewogen?
Ich praktiziere seit 20 Jahren Yoga – äußerlich wie innerlich. 2013 entstand der Gedanke eine Yogalehrer-Ausbildung für Kinder und Jugendliche zu absolvieren. Gedacht – getan. Schon ein Jahr später hat mich eine freundschaftliche Bekannte bei einer guten Tasse Tee angesprochen. Diese Tasse Tee war der Ursprung. Sie war leitende Sozialpädagogin in einem Seniorenheim und schon kurze Zeit darauf habe ich meine erste Yogastunde abgehalten. Mit so viel Freude und Feuer im Herzen, dass ich seither für diese besonderen Menschen brenne. Einige Teilnehmerinnen sind noch heute in dieser Gruppe – nach immerhin fast 6 Jahren!
Ich war schon als junges Mädchen zu älteren Menschen hingezogen. Mich faszinierte ihre Gelassenheit, Großzügigkeit, Bescheidenheit, Geduld. Ich bin innerhalb meiner Familie von Urgroßeltern, Urgroßtante, Großeltern umgeben gewesen. Mehrgenerationenfamilie von Geburtsjahren wie 1903 bis zu mir selbst 1969. Es war selbstverständlich, sie als Bezugspersonen und Ansprechpartner um mich herum zu haben. Später auch ihr Dasein in einem „verkalkten Zustand“ – wie man damals salopp zu sagen pflegte – hautnah zu erleben.
Demenz war mir also nicht fremd und ich hatte keine Scheu.
In welcher Form und nach welchem Konzept bietest du Yoga für demenziell veränderte Menschen an?
Nach meiner ersten angeleiteten Yogastunde habe ich angefangen ein eigenes Gedankengebäude zu entwickeln. Alle gelernten und verinnerlichten Elemente aus Hatha Yoga, Iyengar Yoga, Yoga nach Yesudian, Kriya Yoga, Vijnana Yoga, Yogatherapie habe ich einfließen lassen. Studien und wissenschaftliche Beiträge waren ebenso meine Grundlagen. Ich recherchiere seither rund um die Welt zum Thema Demenz. Mein daraus erschaffenes Konzept heißt Yoga kennt keine Demenz ®. Ich bin davon überzeugt, Yoga ist für ALLE da – auch für weise, erkrankte, körperlich eingeschränkte, unbewegliche, sterbende Menschen.
Ich fühle mich ein bisschen wie auf einer Mission, um Menschen einen Impuls zu geben sich auch auf den Weg zu machen. Daher bin ich mittlerweile auch verstärkt als Dozentin und Referentin tätig. Ich bilde zu meinem Konzept aus, ich halte Vorträge, ich kooperiere mit der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sowie verschiedenen ausgewählten Fortbildungseinrichtungen.
Welche konkreten Schwerpunkte setzt du in deinem Yogaunterricht für Demenzkranke? Welche Übungen sind zum Beispiel besonders wichtig oder was gilt es besonders zu beachten?
Menschen mit Demenz leben im Augenblick. Yoga passiert im Hier und Jetzt, somit ist Yoga eine ideale Quelle. Wichtig ist den inneren Antrieb der demenziell veränderten Menschen zu suchen, anzuregen und zu fördern – weg von einem vorgegebenen Stundenbild.
Wir praktizieren ausschließlich auf dem Stuhl oder im Rollstuhl, daher sind die Asanas entsprechend kreativ angepasst. Angemessene und risikofreie Asanas müssen auf die tatsächlichen Möglichkeiten fokussiert sein, denn die an Demenz betroffenen Menschen haben evtl. eine erhöhte Müdigkeit oder eine überaus verstärkte Unruhe. Zum Beispiel sind Asanas für die beiden Gehirnhälften oder Atemübungen, wie Bhramari Pranayama sehr wertvoll. Und auch Humor ist eine Kraftquelle und für mich sozusagen eine eigenständige Asana geworden.

Was verändert sich bei Menschen mit Demenz, die Yoga praktizieren? Welche Wirkungen zeigen sich hier?
Ich beobachte, dass sich bei den Betroffenen die Wahrnehmung verändert. Der Körper wird in seiner Ganzheit aber auch in einzelnen Bereichen wahrgenommen. Aber noch viel entscheidender ist, das Erleben des eignen Atems. Hinzu kommt, dass körperliche Fähigkeiten wiederentdeckt werden und dadurch die Stimmung sich anhebt bis zu einer heiteren Gelassenheit.
Ich suche auch immer wieder das Gespräch mit Pflegepersonal, Sozialpädagog*innen und der Einrichtungsleitungen, um den Zustand der einzelnen Betroffenen in meinen Gruppen zu besprechen. Mir wird bestätigt, dass etwa positive Stimmungsveränderungen bemerkbar sind. Da hüpft dann mein Yogaherz aus Freude.
Was bereitet dir in deinem Unterrichten für demenziell veränderte Menschen besondere Freude, was sind die Schattenseiten dieser Tätigkeit?
Meine Freude: Alles darf sein. Es gibt nichts zu bewerten, zu fordern, zu erfüllen. Und vor allem die Begegnung auf Augenhöhe und das herzige Miteinander. Ich bin ganz da bei den demenziell veränderten Menschen und gehe reich beschenkt in meinen Alltag zurück.
Ja, es gibt auch die Schattenseiten. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist die Geschichte. Wir wissen vom Leid der Kriegsjahre, was nicht unterschätzt werden darf. Wir sind oft so unwissend in der Biografiearbeit, was diese Menschen gesehen, gehört, am eigenen Leib erfahren mussten. Diese emotionalen Traumata sind ein unsagbarer Kummer, fest verschlossen in der inneren Welt. Es gab damals keine Psychotherapeut*innen, Sozialpädagog*innen oder dergleichen; man hat „einfach“ weitergelebt (überlebt). Manchmal kommt der Schmerz hoch und die Menschen sind gefangen in dieser Erinnerung. Im Yogaunterricht muss man deshalb umso mehr darauf achten, geschehenes Leid nicht zu triggern.
Kannst du uns eine berührende Anekdote aus deiner Unterrichtserfahrungsschatz erzählen?
Eine Dame im Alter von 89 Jahren war schon einige Jahre meine Schülerin. Ich habe mir das Thema Leichtigkeit vorgenommen und jeder durfte eine Feder in seiner Hand erspüren. Die Dame war sehr entzückt. Sie sagte zu mir: „Wenn ich sterbe, soll es so leicht sein wie diese Feder auf meiner Hand!“ Dem ist einfach nichts hinzuzufügen. Ich wünsche es ihr von tiefstem Herzen.

Inwiefern hast du dich durch deine Erfahrungen als Yogalehrerin für Menschen mit Demenz verändert? Und inwiefern hat sich dein Verständnis von Yoga gewandelt?
Es bereitet mir so viel Freude zu geben. Ich habe das Gefühl angekommen zu sein. Ich beginne fast täglich meinen Tag mit Meditation, Kontemplation und Asanas. Doch ohne diese demenziell veränderten Menschen hätte ich nicht so intensiv gelernt, Geduld, Toleranz und Mitgefühl zu entwickeln.
Ich habe mich achtvoller der Gegenwart zugewendet. Ich praktiziere nach meinen Möglichkeiten und lausche mehr meinem Herzenswissen. Es gilt nicht mehr eine Yogarichtung zu perfektionieren, eingerahmt zu sein in einer exakten Ausführung der Haltungsausrichtung.
Welchen Rat hast du für Menschen, die auch mit dem Gedanken spielen, Yoga für Menschen mit Demenz zu unterrichten? Was sollte man hier mitbringen?
Im moment-to-moment Geistes- und Körperbewusstsein zu lehren. Einfach sein – in Liebe und Akzeptanz des Augenblicks. Das Praktizieren sollte in Ergebenheit des Gegenübers sein.
Das Mitgefühl ist entscheidend im konkreten Üben mit demenziell veränderten Menschen. Was bei jedem demenziell veränderten Menschen bis zuletzt bleibt, ist das Gefühl. Die Gefühle werden nämlich nicht dement. Es ist wichtig mit einem friedvollen Geist, statt einem aufgewühlten Geist den Betroffenen zu begegnen.
Es ist eine Yogapraxis der kleinen, manchmal auch der ganz kleinen Schritte, ohne dass man sich aus der Ruhe bringen lässt. Demut ist ein guter Begleiter.
Wenn du dir für die Zukunft etwas wünschen könntest, was wünschst du dir für das Thema Demenz?
Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft erkennt, wie wertvoll demenziell veränderte Menschen sind. Ich wünsche mir mehr Respekt, Achtung und Inklusion. Es betrifft uns alle und jeder kann irgendwann betroffen sein. Demenz heißt ja nicht der Mensch wird bekloppt. Wir verändern uns auf eine andere Bewusstseinsebene.
Aber wir sollten auch die Angehörigen, Pflegekräfte, Betreuer*innen nicht vergessen, denn ihnen gehört auch unser Dank für die unermüdliche Unterstützung oft bis zum Limit ihres eigenen Potentials.
Ich bedanke sehr mich für die Möglichkeit meine Gedanken bei yoga.ZEIT zum Ausdruck bringen zu dürfen.

Über Natalie Stenzel
geb. 1969 in Pirmasens (D) – halb Pfälzerin und halb Italienerin
Gründerin und Inhaberin von Kijana Yoga www.kijanayoga.de
Dozentin zu ihrem Konzept Yoga kennt keine Demenz ®
Autorin von Fachartikeln
Sie studierte Betriebswirtschaft in Fachrichtung Tourismus, leitete Expeditionsreisen im Sultanat Oman, Tansania und Sansibar, hatte verschiedene Managementpositionen in der Hotel- und Tourismusbranche, gründete ihr eigenes Reiseunternehmen in United Kingdom und lebt nun seit 2011 entspannt mit Ehemann, Tochter und Kater in Oberbayern.
Seit 2014 geht sie ihrer Passion zum Thema Yoga und Demenz nach. Sie ist eine unermüdliche Wissenssammlerin und gibt es gerne weiter. Ihre Vision: Dass noch mehr Yogalehrer*innen mutiger werden, mit demenziell veränderten Menschen zu praktizieren.
Begriffsdefinition Demenz
Die Alzheimer Erkrankung ist die häufigste Form der Demenz (ca. 70%), wobei der Begriff Demenz annähernd 50 Krankheiten zusammenfasst.
Rund 80% aller Demenzen werden durch Krankheiten des Gehirns hervorgerufen, bei denen Nervenzellen allmählich verloren gehen. Man bezeichnet diese als Neurodegenerative Krankheiten und ihre Ursachen sind erst teilweise bekannt (Quelle: Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Demenz in der Publikation „Dementia: A Public Health Priority“ (2012) und in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) als Syndrom einer erworbenen, chronischen und progressiv verlaufenden Erkrankung der Hirnleistung, die zur Beeinträchtigung multipler höherer kortikaler Gehirnfunktionen führt. Beeinträchtigt sind der WHO zufolge:
- die Gedächtnisleistung
- die Denkfunktionen
- die Orientierungsfähigkeit
- die Fähigkeit zu kalkulieren
- die Lernkapazität
- die Urteilsfähigkeit
- die Sprach- und Kommunikationsfähigkeit
- die Fähigkeiten zur Lösung von Alltagsproblemen
(vgl. Alzheimer’s Disease International 2012: 7; Sepandj 2015: 4 f.).
Die Symptome einer Demenz hängen von der Art der Erkrankung ab. Es gibt große Unterschiede, auch wenn sich die Symptome vieler Demenzen ähneln.
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