Woher kommt die Idee, dass Tantra was mit Sex zu tun hat?
Viele tantrische Traditionen haben das Wort Tantra aus ihren Beschreibungen verbannt, da der Begriff im Westen sehr eng mit der Konnotation von sexuellen Praktiken in Verbindung steht. Über weite Strecken, hat Tantra aber erstmal gar nichts mit Sex am Hut.
Allerdings gibt es in Abhinavaguptas (der einflussreichste Tantra Lehrer um ca. 950 n.Chr) Tantra Loka (einer spirituellen Schrift) ein Kapitel zu diesem Thema, in dem er hervorhebt, dass die Befreiung (Moksha) über die körperliche Vereinigung am einfachsten funktioniert – ganz besonders für Frauen. Man freue sich allerdings nicht zu früh! Dafür ist eine Jahrelange Vorbereitung notwendig. Tantra ist also nicht zu verwechseln mit Neo-Tantra, der wohl für die meisten „Ganzkörper-Orgasmus-Suchenden“ ein sinnvollerer und gangbarerer Weg sein wird.
Im Osten hören viele das Wort Tantra ebenfalls nicht gerne, da damit schwarzmagische Techniken in Verbindung gebracht werden.
Ich hoffe, dieser Artikel kann Tantra, und im speziellen den Nondualen Tantra des Kashmir Shivaismus, als Praxis und Sammlung von hocheffektiven Techniken etwas rehabilitieren, denn es ist nicht nur eine wunderschöne philosophische Weltanschauung, sondern beinhaltet jede Menge hocheffektive Techniken.
Beinhaltet dein Yoga die Arbeit mit Chakras? Dann praktizierst du Tantra.
Die Lehre vom Energiekörper und damit auch von Kundalini und den Chakras ist in den tantrischen Schriften das erste Mal zu finden. Wenn dich Energiezentren und Energiebewegungen im Körper interessieren, lohnt es sich jedenfalls einen genaueren Blick auf dieses Thema zu werfen. Das weit verbreitete 7-Chakra System das von Sir John Woodroffe in den Westen gebracht wurde, ist nur eines von mehreren Chakra-Systemen. Das Regenbogen-Farbsystem ist übrigens eine westliche Erweiterung, zurückzuführen auf Judith Anodea.
Für mehr Klarheit über die klassische Lehre der Energiezentren findest du hier einen Artikel von Hareesh Wallis.
Bedeutung des Wortes Tantra
Tantra ist ein Sanskrit Wort, das so wie viele Sanskrit Begriffe, mehrere klare Bedeutungen hat wie z.B. „Theorie“, „Lehre“, „Richtlinie“ oder ganz einfach „Buch“. Als Buch versteht man spirituelle bzw. heilige Schriften, die so genannten Tantras. Diese Texte, die auch unter dem Namen „Agamas“ bekannt sind, entstanden ab dem 6. Jhdt. n. Chr. und die kommenden tausend Jahre in großer Zahl.
Tantra im konkreteren Sinn referenziert auf genau diese Schriften und deren Praxis-Systeme. Jede einzelne dieser Schriften kann als in sich komplette Lehre verstanden werden.
Etymologisch kann man Tantra in die Silben
tan – expandieren oder
tra – sichern
aufspalten.
Tantra verbreitet (tan) Weisheit und sichert sie so (tra).
Es gibt sowohl dualistische als auch non-dualistische Strömungen des Tantra. Im Westen ist vor allem der non-dualistische Pfad angekommen.
Ananda – die bedingungslose Liebe – ist unsere wahre Natur. Umso mehr wir in Alignment mit der Realität leben, umso mehr finden wir Ananda in allen Lebenssituationen.
Alles ist gleich göttlich, und damit auch vollkommen und perfekt
Rama Kantha streicht in seiner Definition von Tantra 4 wesentliche Merkmale heraus, die über alle Tantra-Strömungen hinweg gültig sind:
- Eine klare Intention (ursprünglich mit einer Initiaiton verbunden)
- Die Verehrung der Göttlichkeit in allen Wesen und der Natur (oft mittels Ritualen)
- Höhere Ziele (Moksha – Befreiung) und niedere Ziele (weltliche Ziele wie siddhi, bhukti oder bhoga). Rama Kanta streicht hier deutlich heraus, dass sich keine Praxis „tantrisch“ nennen kann, die sich nur auf die niedrigen körperlichen oder weltlichen Ziele beschränkt.
- Alle Tantras (Schriften) sind göttliche Lehren und werden durch einen vertrauensvollen Lehrer weitergegeben.
Auch heute noch wird großen Wert darauf gelegt, dass Lehrer:innen lebendiges und erfahrenes Wissen weitergeben. Optimalerweise gibt es keine Unterbrechung in der Tradition (das Wissen wird also persönlich von einem Lehrer zum nächsten übergeben).
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Tantra – eine Lehre aus der weiblichen Kraft
Von Anfang an war Tantra eine Lehre die nicht an eine Kaste, Geschlecht, Gesellschaftstand usw. geknüpft war, sondern die jede Person erhalten konnte der Saktipata erfahren hat (Erweckungserfahrung / dringendes Verlangen nach Befreiung). Im Besonderen möchte ich herausheben, dass die Guru Linie von Frauen, so genannten Yoginis, initiiert wurde (Mangala, Mandanika, Keyuravati und Kalyanika)
Die Hochzeit des Tantra kann um das 9. Jhdt. nach Chr. datiert werden. Hier lebte auch der wichtigste Gelehrte, dessen Schriften auch heute noch Grundlage für viele Praktizierende sind: Abhinavagupta
Leider sind durch die islamische Invasion im Kashmir viele Schriften verloren gegangen.
Dennoch haben sich die tantrischen Lehren in Ganz Indien und auch Nepal, Tibet, Bhutan verbreitet und das spirituelle Verständnis wurde von vielen Strömungen geprägt. Die historisch wichtigste ist wohl die Lehre des Kahmir Shivaismus, da sich viele Lehren des tantrischen Buddhismus direkt oder indirekt auf die Lehren Shaiva Tantras beziehen.
Das Leben weckt dich auf – Saktipada
Saktipada (Erweckungs-Erfahrung) kann in sehr starker oder sanfter Form erfahren werden. Oft wird von Gurus erzählt, die ihre „Sicht“ der Realität an den Schüler weitergegeben haben. Für die meisten von uns ist es aber durch ein dringendes Verlangen nach persönlicher Entfaltung wahrzunehmen. In jedem Fall hat Saktipada einen maßgeblichen Einfluss auf das Leben.
Du wirst Antworten in den Tantrischen Lehren finden wenn du folgende Anzeichen von Saktipada in deinem Leben wiederfindest:
Weltliche Erfahrungen (Besitz, Macht, Geld usw.) sind nicht mehr zufriedenstellend
- Du triffst Lehrer oder Bücher mit genau den richtigen Themen, sie fallen dir quasi in die Hand. Du bist fasziniert von spirituellen Lehren, auch wenn du sie gar nicht wirklich verstehst.
- Du veränderst deine Lebensumstände: isst gesünder, betreibst Sport, liest inspirierende Bücher oder siehst dir entsprechende Dokumentationen an.
- Dein kreatives Potential möchte entfaltet werden (du beginnst wieder ein Instrument zu spielen, Malen, Schreiben usw.)
- Yoga und Meditation werden ein wesentlicher Bestandteil deines Alltages.
- Du fühlst dich emphatischer und damit auch verletzlicher und sensibler, kannst das aber als deine Stärke wahrnehmen.
- Tiefe Freude und Dankbarkeit erhalten mehr und mehr Platz in deinem Leben.
- Beziehungen verändern sich: Personen, die dir lange nahestehen, verlassen dein Leben und neue inspirierende Menschen treten an deren Platz.
- Du fühlst dich zur richtigen Zeit am Richtigen Ort im richtigen Körper.
Die wichtigsten Charakteristika der tantrischen Lehre
Nonduale Lehre: es liegt der Annahme zu Grunde, dass alles aus dem einen selben Bewusstsein entstanden ist – so ist auch alles miteinander verbunden. Wenn wir von „Erwachen“ oder „Befreiung“ sprechen, so ist das die Wahrnehmung und die Erkenntnis das wir alle dieses eine Bewusstsein sind und jede Wahrnehmung nur eine Schwingung dieses einen Urgrundes in Form dieser Wahrnehmung ist.
- Tantra wird als der „schnelle Weg“ zur Befreiung genannt, weil man ihn nicht alleine (als Asket im Rückzug aus der Welt) sondern in der Kula (Gemeinschaft) und mit einem Lehrer (der die Weisheit der Schriften erfahren hat) geht.
- Haushälter-Tradition: die Mehrheit der Tantra-Praktizierenden lebt in einem sozialen Gefüge mit Familie, Beruf und anderen sozialen Verpflichtungen. Es gibt zwar auch im Tantra den Weg des Rückzuges (der sonst vor allem in den Vedantischen Lehren und Patanjalis Yoga Sutras forciert wird). Dieser Weg ist aber nur für wenige der Richtige Pfad.
- Die Arbeit mit Mantras ist ein zentraler Teil der Praxis. Mantras werden als bewusste Schwingungen (Wesenheiten), die im Körper installiert werden, angesehen. Ein Mantra kann nur von einem Lehrer übertragen werden, in dem dieses Mantra lebendig ist. Mantras, z.B. aus Büchern, sind in diesem Sinne kraft- und wirkungslos.
- Notwendigkeit eines Lehrers (Gurus).
Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass ab einem gewissen Grad der spirituellen Entwicklung, ein Guru hilfreich oder sogar notwendig ist, um die Erfahrung iin das Leben integrieren zu können. - Yogapraxis im Sinne von Visualisierungs- und Meditationspraxis.
- Arbeit mit und am feinstofflichen Körper und der Kundalini.
- Visualisierungen und Identifikation mit Göttinnen und deren spezifischer Qualität.
- Wichtigkeit von Shakti (als Kraft, Energie, Weiblichkeit und Gottheit).
- Einsatz der Sexualität als Instrument der Energielenkung und Befreiung.
- Wichtigkeit der Rolle der Weiblichkeit.
- Auflösen von persönlichen Gedanken-Konstrukten um die Realität wahrnehmen zu können.
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Teil 1: 29. September 2021, 19.00 h
Yogaschulen mit Tantra Bezug
Lehrende des Tantra Yoga
Manuel Hirning / DE
Im Gespräch mit Manuel
Weiterführende Literatur zum Thema Tantra Yoga:
Englisch: Tantra Illuminated: The Philosophy, History, and Practice of a Timeless Tradition
Vijnana Bhairava – Das göttliche Bewußtsein von Bettina Bäumer
Tantra Yoga: Vijnana Bhairava Tantra – der Weg zur höchsten Erkenntnis von Daniel Odier
Tantric Sex von Gabriel Pradipaka in Englischer Sprache
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