Im Teil 2 der Serie “Tantra-Mythen und Yoga-Klischees” räumt Autorin, Yogalehrerin und spirituelle Revoluzzerin Danja Lutz mit dem Begriff “Tantra” auf.
Das Wort „Tantra“ scheint die menschliche Fantasie zu beflügeln wie kaum ein anderes im Yoga-Kontext. Doch entgegen der weit verbreiteten Meinung handelt es sich bei Tantra nicht um einen altertümlichen Porno, sondern um ein komplexes System zur Entfaltung des Menschen – sowohl in weltlichen, als auch spirituellen Belangen.
Ich bin Tantrikerin mit Herz und Seele. Und tanze nicht nackt und auf LSD durch die Welt. Ich habe auch nicht täglich Sex. Und in den Yogastunden behalten alle ihre Klamotten an.
Was ist also dran, an Tantra?
Unter dem Begriff Tantra eröffnet sich eine extrem mannigfaltige und kaum überblickbare Tradition des indischen Hinduismus und Buddhismus. Er bezeichnet eine der ältesten philosophischen Schulen und gleichzeitig ein praktisches spirituelles System – ursprünglich mündlich und später auch schriftlich überliefert – wovon ein riesiger Komplex an Texten zeugt.
Aus verschiedenen Kanälen gespeist – manche gehen nach heutigen Erkenntnissen über 5.000 Jahre in die Harappa-Kultur zurück – erlebte Tantra eine Hochblüte um 1100 nach Christus. Das besondere an dieser Tradition ist, dass sie das Leben in all seinen Facetten bejaht. Damit wandten sich die Tantriker gegen die Herrschaft der orthodoxen Hindu-Elite, die nur ein sehr enges Spielfeld der Spiritualität erlaubte. Wurde man nicht als Mann und in die richtige Kaste hineingeboren, blieb einem der Zugang zum Praktizieren bis zu diesem Zeitpunkt verwehrt.
Tantra hingegen trennt das Weltliche nicht vom Spirituellen. Wir brauchen also nicht abgeschottet in einer Höhle oder einem Kloster zu wohnen, um unser Bewusstsein zu entfalten. Im Gegenteil: die spirituelle Entwicklung wird hier vollständig in weltliche Belange integriert. Die erlebte Realität agiert als unser Guru, wenn wir achtsam und reflektiert erfahren, was im „Außen“ passiert.
Wie Innen, so Außen
Die vielen verschiedenen tantrischen Strömungen eint die Weltsicht, dass das ganze Universum in uns selbst zu finden sei und innere und äußere Wirklichkeit einander entsprechen. Die verborgene Dimension der makrokosmischen Realität erhält also ihre exakte Parallele im Mikrokosmos des Menschen.
Die alten Tantriker sahen die physische Welt als den schon verwirklichten Himmel. Sie sahen das Göttliche überall und das Leben als etwas Heiliges. Im Mahanirvana Tantra zusammengefasst mit zwei Sätzen (über die sich ewig kontemplieren lässt): „Was hier ist, ist auch woanders. Was hier nicht ist, ist nirgendwo.“ Und so legt uns Tantra die Verantwortung in die eigenen Hände, in uns jene Qualitäten zu kultivieren, von denen wir mehr in der Welt sehen möchten.
Die Wissenschaft der Energiearbeit
Das Wort „Tantra“ besteht aus zwei Verben: „tan“ bedeutet verlängern, strecken, weiten und „tra“ ausdehnen, schützen, sich jenseits aller Limitationen zu bewegen.
Tantra kann alles sein, was dich dazu anregt, dich über deine Grenzen hinauszustrecken und Hindernisse zu beseitigen, die dich von einem erfüllten Leben entzweien. Er schafft Verbindung zu dem Teil unseres Selbst, der sich jenseits von Dualität befindet, unveränderbar und immer in Liebe mariniert.
Er ist ein Pfad der Energie, Kraft und Ermächtigung, der uns lehrt, wie wir uns am effektivsten von karmischen Zyklen und alten Gewohnheiten befreien, um zum Wohle des großen Ganzen beizutragen.
Tantra bedeutet auch „Technik“ oder „Methode“, was darauf hinweist, dass uns diese Tradition eine gigantische Anzahl an detaillierten Praktiken hinterlässt, um in allen Bereichen des Lebens zu erblühen und unser Potential zu verkörpern. Hierfür gibt es Ansätze mit, aber ebenso ohne yogische Praktiken (Asana, Pranayama, Bandha, Mantra, Mudra, Yantra). Dabei ist der energetische Körper mit Kundalini, Chakras und Granthis für den Tantriker ein fundamentaler Aspekt seiner menschlichen Realität.
Tantra – links- und rechtshändige Formen
Eine grobe Gliederung der tantrischen Tradition findet durch die Begriffe „links-“ oder „rechtshändig“ statt.
Linkshändiger Tantra zeichnet sich durch – sagen wir mal – unkonventionelle spirituelle Praktiken aus, die im Normalfall nicht mit einem adäquaten sozialen Verhalten in Einklang zu bringen sind. Die Adepten verbringen z. B. viel Zeit auf Leichenverbrennungsplätzen, auf den leblosen Körpern hockend, um dem Tod so nahe wie möglich zu sein. Es geht dabei um eine intime Beziehung mit der eigenen Sterblichkeit und dem Kreislauf des Lebens. Durch diese viszerale Begegnung mit dem Tod, wollen die Praktizierenden mit ihren Anhaftungen an den Körper in Kontakt kommen und so die menschliche Angst vor dem Sterben transformieren.
Rechtshändiger Tantra hingegen gliedert sich in bestehende soziale und religiöse Normen ein. Diese Tradition ist Teil des Shaktismus, der dem weiblichen Aspekt des Seins einen zentralen Stellenwert beimisst. Der Tantriker verehrt den nicht-manifestierten kosmischen Mutterleib, aus dem durch die Kraft von Shakti (Energie) alles Sein geboren und aus „eins“ viele wird.
Um die Tradition zu verstehen, ist es wichtig zu begreifen, dass für einen Tantriker alles mit der Zugehörigkeit zu einer Linie steht und fällt. Dieser Gedanke hat nichts damit zu tun, andere ausschließen zu wollen. Ganz im Gegenteil: Steht Tantra doch allen Menschen offen. Dahinter verbirgt sich die Idee der direkten Übertragung von Energie und Weisheit von einem Lehrer zu seinem Schüler, einer Transmission von Seele zu Seele.
Oder wie mein Lehrer Rod Stryker zu sagen pflegt: „You don’t learn Tantra from a book, you receive it.“
Eine Erinnerung an den Sinn unseres Da-Seins
Traditioneller Tantra war eine subtile und klare Wissenschaft, bis der Westen damit begann, mit tantrischen Konzepten in einer okkulten Art und Weise zu experimentieren.
Viele Menschen verwechseln das Kamashastra der indischen Literatur (Lehrwerke über Erotik) mit Tantra. Die beiden haben allerdings soviel miteinander zu tun, wie ein sibirischer Eisbär mit einem Känguru. Das heutzutage hauptsächlich angebotene sexuelle „Neo-Tantra“ hat keine Verbindung zu einer traditionellen Linie, sondern geht u. a. auf Aleister Crowley zurück. Er war einer der ersten, der im 19. Jhdt. mit seinem Buch „Sex Magick“ zur Schieflage von Tantra beigetragen hat, indem er sexuelle Praktiken mit Sanskrit-Begriffen überfrachtete.
Es ist mir hier ein Anliegen anzumerken, dass ich es als überaus wichtig erachte, Sexualität ihre heilige Dimension zurückzugeben und sie als Portal zu begreifen, um unsere Bewusstheit auszudehnen und das Selbst zu erfahren.
Doch Tantra ist viel mehr als das und es ist an der Zeit, ihm seinen authentischen Ausdruck zurück zu geben: Als eine Praxis, die uns einlädt, unsere eigene Energie zu nutzen, um den Sinn unseres Daseins zu erfahren und im Herzen berührt zu sein von diesem unglaublichen Geschenk, das wir Leben nennen.
Wenn du klassischen rechtshändigen Tantra erleben möchtest, dann lade ich dich ganz herzlich ein zu meiner Workshop-Reihe „Embodied Tantra“, die im Februar 2018 startet.
In diesem Sinne: Shakalaka Tantrica 😉
Lust auf mehr aus der Serie “Tantra-Mythen und Yoga-Klischees”?
Hier geht’s zum Artikel: “Karma – was heißt das?”
Ganz kurz zur Artikel-Serie “Tantra-Mythen & Yoga-Klischees.”:
Diese ist dem Entstauben und Hinterfragen gewidmet. Autorin Danja Lutz möchte mit ihren Texten Blickwinkel eröffnen, die aus einem in traditionellen Texten verankerten Verständnis für Yoga und Tantra entstehen. Danja will aufdecken und beleuchten, in scheinbar fertig Sortiertem kramen und zum Neu-Ordnen anregen. Zieht euch warm an, ihr Klischees, die ihr in der Yogawelt kursiert und eure Mätzchen treibt. Ab jetzt wird gebohrt und gestierlt und wir werden sehen, was dran ist an euch.
Mehr über Danja gibt’s auf www.soulshakti.at
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