Tantra im Alltag
Über Lebensveränderungen, Moksha, sexuelle und spirituelle Ekstase
Manuel Hirning unterrichtet Tantra Yoga in Indien und Deutschland. Er ist zertifiziert als Advanced Yoga Teacher durch das Shri Kali Tantra Yoga Ashram in Indien. yoga.ZEIT hat sich mit ihm näher unterhalten …
yoga.ZEIT: Was ist Tantra und wie hat es dein Leben verändert?
Manuel: Tantra ist eine praxisorientierte Philosophie die zwischen 600 und 1.200 n. Chr. in Indien ihre Blütezeit hatte. Charakteristisch für diese philosophische Strömung ist, dass das gesamte Universum inklusive uns Menschen als eine Manifestation des Absoluten angesehen wird. Hierbei wird die Welt jedoch nicht wie in der Vedanta Philosophie, die Indien am weitesten verbreitet ist, als Maya, als Illusion verstanden, sondern als wirklich, als realer Ausdruck des All-Einen. Nur das begrenzte Bewusstsein des nicht befreiten Individuums verstrickt sich fortlaufend in der Illusion, sich selbst als von der Welt getrennt wahr zu nehmen und es sieht alles durch den Schleier der Dualität. Das Ziel im Tantrismus ist Moksha, die Befreiung von diesem begrenzenden, verzerrenden Schleier.
Tantriker verwenden ganz verschiedene Methoden um nach und nach, oder manchmal auch ganz plötzlich, tiefer in diese Freiheit einzutauchen. Hierzu können z. B. Asana, Pranayama, Bandha, Mudra, sexuelles Kundalini Yoga, Ritual, spezielle Konzentrationstechniken und Mantrameditation gehören. Das Ziel ist jedoch, irgendwann alle Techniken loslassen und spontan im Alltag tiefe Einheitszustände erfahren zu können.
Der Tantrismus hat mein Leben in vielerlei Hinsicht verändert. So konnte ich z. B. erst ein fundiertes Verständnis für Hatha und Kundalini Yoga entwickeln als ich während meiner langen Indienaufenthalte tief in den Tantrismus eintauchte. Im Westen wird Hatha Yoga nämlich oft ohne Bezug zur zugrunde liegenden Philosophie unterrichtet oder in den Kontext der Vedanta Philosophie gesetzt, welche den Körper und das gesamte Universum ja als unwirklich betrachtet. Die Wurzeln des Hatha und Kundalini Yoga liegen jedoch im diesseits- und körperbejahenden Tantrismus. So stammt beispielsweise die Chakrenlehre, die für das Verständnis von Asana und Pranayama eine wesentliche Grundlage darstellt, aus dem Tantra. Durch den Zugang zur tantrische Dimension des Yoga ist meine Yogapraxis vor allem in energetischer und geistiger Hinsicht deutlich effektiver geworden.
Der Tantrismus beeinflusst mittlerweile jeden Aspekt meines Lebens. Durch die Tantra-Yoga-Praxis haben sich bestimmte Qualitäten verstärkt, wie z. B. Loslassen können und Akzeptanz von Dingen die ich im Innen oder im Außen gerade nicht ändern kann. Ich fühle mich viel offener, entspannter und habe mehr Energie. Viel öfter als früher fühle ich mich im Alltag erfüllt und zufrieden, ja sogar glücklich, ohne einen bestimmt Grund hierfür zu brauchen. Ich habe noch deutlich mehr Freude in intimen Beziehungen. Begrenzende geistige Muster sind mir bewusster geworden und sie fallen oftmals wie von selbst ab. Unbewusste Routinen lösen sich auf, das Leben fließt intensiver und freier, jeder Tag ist ein kleines Abenteuer und der Gedanke auf diesem Weg immer weiter gehen zu können zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.
yoga.ZEIT: Kann ich Tantra auch ohne Partner praktizieren?
Viele Tantriker leben zölibatär. Für die meisten Methoden und das Erreichen von Moksha ist also kein Partner notwendig.
In manchen tantrischen Schulen ist es jedoch Teil der spirituellen Praxis, die machtvolle Energie der unteren Chakren auf sexuelle Weise zu aktivieren und in die yogische Energiearbeit zu integrieren. Aber selbst hierfür ist nicht unbedingt ein Partner notwendig. Allerdings kommt es, wenn man mit sich alleine ist, natürlich nicht zu einem energetischen Austausch zwischen Yogi und Yogini, die energische Wechselwirkung zwischen den beiden Energiekörpern bleibt aus und führt daher nicht zur so genannten Erregungsspirale, in der das Erregungs- und Energieniveau der beiden Partner mit etwas Übung bis zur absoluten Ekstase ansteigen kann. Trotzdem können fortgeschrittene Tantriker auch alleine tiefe, ekstatische Zustände erfahren, selbst bei einem einfachen Spaziergang in der Natur. Für einen Tantriker lösen sich irgendwann die Unterschiede zwischen sexueller und spiritueller Ekstase auf. Aber das ist die hohe Schule und bis dahin stellt die sexuelle Vereinigung mit einem Partner ein ausgesprochen machtvolles, wenn auch nicht unbedingt notwendiges, Experimentier- und Erfahrungsfeld dar.
yoga.ZEIT: Was empfiehlst du, wenn jemand mit Tantra beginnen möchte?
Ein guter Einstieg ist der Besuch eines entsprechenden Seminars oder Retreats. Hierbei sollte man sich jedoch den Lehrer und das Programm genau ansehen. Es wird nämlich vieles unter dem Namen Tantra angeboten was eher erotische Effekthascherei ist, und wenig mit dem ursprünglichen Ziel der nachhaltigen Bewusstseinserweiterung zu tun hat. Solche Angebote führen auch zu einem verzerrten Bild vom Tantra in der westlichen Öffentlichkeit, da sexuelle Handlungen im traditionellen Tantra, wenn überhaupt, immer nur Teil einer ganzheitlichen Praxis sind.
Im Anschluss an die Einführung sollte man dann regelmäßig praktizieren und sich immer wieder mit anderen Praktizierenden austauschen.
In meinem Seminarangebot gibt es zum Beispiel drei verschiedene Seminare die auch zum Einstieg ins Tantra geeignet sind. In einem liegt der Schwerpunkt auf traditioneller, tantrischer Asana Praxis, Tantra-Meditation und Entspannung. In einem weiteren Einführungsseminar unterrichte ich verschiedene Yoga Techniken, um die sexuelle Energie kultivieren, während der sexuellen Vereinigung lenken und effektiv für das spirituelle Wachstum nutzen zu können. Und im dritten Einführungsseminar liegt der Schwerpunkt auf Pranayama und Chakrakonzentration. So kann jeder einen für sich passenden Zugang zum Tantra wählen.
yoga.ZEIT: Eines dieser Einführungsseminare schlägt also die Brücke zwischen Yoga und Sexualität. Wie läuft ein solches Seminar ab?
Das Einführungsseminar Rotes Tantra Yoga liefert die wichtigsten Techniken für sexuelles Kundalini Yoga. Diese Yogatechniken, zu denen unter anderem Visualisierungen, Bandhas, Mudras und Mantren gehören, werden detailliert besprochen und geübt. Nach der Teilnahme am Seminar können sie dann selbständig während der sexuellen Vereinigung eingesetzt werden. Dadurch werden transformierende, ekstatische Zustände regelmäßig erfahrbar und die Sexualität wird nachhaltig zu einer machtvollen Quelle der Freude und Energie.
Im Einführungsseminar Rotes Tantra Yoga werden die Yogatechniken ausschließlich als „Trockenübungen“ unterrichtet, das heißt also, dass keine Partnerübungen durchgeführt werden und es auch zu keinen sexuellen Handlungen kommt. Paare und Singles sind herzlich willkommen. Um über dieses Seminar ins Tantra einzusteigen, sollte man allerdings bereits ein wenig Yogaerfahrung haben, wobei jedoch es weder auf den Yogastil noch die akrobatischen Fähigkeiten ankommt.
yoga.ZEIT: Welche Übung / Technik kannst du für unsere Leser zum Einstieg in die tantrische Sexualität empfehlen?
Tantra lehrt, das gesamte Leben zu einer bewegten Meditation werden zu lassen. Dies gilt natürlich auch für das Liebesleben. Eine meditative Qualität kann man dem Liebesspiel beispielsweise durch regelmäßiges innehalten und entspannen geben. Sobald es mechanisch und unbewusst wird, lässt man jede Zielorientierung los, entspannt sich völlig und kommt in den Augenblick, ins bewusste Spüren. Dies ist vor allem für viele Männer bereits eine echte Herausforderung. Auf diese Weise wird das Liebesspiel viel intimer, feiner und befriedigender. Es wird zu einem erfüllenden, meditativen Tanz von Bewusstsein und Energie. Asana Praxis mit Fokus auf Entspannung ist hierfür eine optimale Schulung.
Diese meditative Herangehensweise kann dann auch mit sexuellen Kundalini Yoga Techniken kombinieren werden. Das hört sich für viele Anfänger zunächst widersprüchlich und verkopft an, jedoch integrieren sich vor allem die subtilen, etwas fortgeschritteneren Techniken meist rasch und in einem natürlichen Fluss in das Liebesspiel und bieten dem geschulten Tantriker interessante Möglichkeiten.Diese Techniken sollte man aber unbedingt von einem erfahrenen Tantra-Yogalehrer erlernen, da es auch gewisse Risiken gibt, weil sehr viel Energie bewegt wird.
Um einen ersten Vorgeschmack zu bekommen, kann der Yogi bzw. die Yogini einmal versuchen während der sexuellen Vereinigung ganz auf den Orgasmus zu verzichten. Nach der Vereinigung sollte der Yogi bzw. die Yogini dann den Kopfstand durchführen oder mehrmals Uddhiyana Bandha setzen.Diese beiden Yogatechniken lenken die Energie, die auf den unteren Chakren während der Vereinigung aktiviert wurde, jedoch nicht durch einen Orgasmus verpufft ist, zu den höheren Chakren um. Hierbei wird die Energie verfeinert, die höheren Chakren werden aktiviert und das gesamte System wird von Lebensenergie durchflutet. Bereits der erste Versuch mit diesen, zunächst noch sehr groben Techniken hat oftmals einen subtilen, aber mehrere Tage lang anhaltenden Effekt. Das Körperbewusstsein ist geschärft, man fühlt sich energetisiert, ist konzentrierter und die Asana und Pranayama Praxis bekommt mehr Tiefe. Jedoch sollte man es bei einem ersten Versuch belassen, da es bei der regelmäßigen Durchführung von dieser Art yogischer Energiearbeit einiges zu beachten gibt und dann eine umfassende Einführung in die Thematik unerlässlich ist.
Mehr Infos zu Manuel Hirnings Seminaren unter www.sukha-tantra.com
Fotocredits: sukha-tantra.com (3)
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