Obst ist gesund. Bewegung ist gesund. Yoga ist gesund. Darüber sind wir uns weitgehend einig. Obwohl: Menschen mit Fructoseintoleranz sollten kein Obst essen und Menschen mit einem akuten Bandscheibenvorfall sollten mit Bewegung eher vorsichtig sein… Also wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von Gesundheit sprechen? Dieser Frage geht vor allem die Salutogenese nach und Dr. Sita Silvia Sitter geht ihr in diesem Artikel nach.
Ich möchte dich einladen, dir einen Augenblick Zeit zu nehmen und kurz zu überlegen: Was ist und was bedeutet für dich Gesundheit? Wie fühlst du dich, wenn du gesund bist? Und woran spürst du, dass du gesund bist?
Mein Nachdenken über Gesundheit führte mich zum israelisch–amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky, der in den 1970er Jahren einen Begriff prägte: Salutogenese. – Saluto…was? Salus (aus dem Lateinischen) bedeutet Gesundheit, Wohlbefinden und genesis (aus dem Griechischen) bedeutet Ursprung, Entstehung.
Unsere Überlegungen zum Thema Gesundheit sind vielfach geprägt vom Versuch, Krankheiten zu verhindern. Sie sind also pathogenetisch orientiert (pathos ist griechisch und bedeutet Leiden). Wenn wir uns darauf konzentrieren, welche Lebensmittel uns schaden könnten, welche Umweltfaktoren uns stören und was sonst noch alles schlecht und unbekömmlich ist, sind wir genau genommen nicht auf Gesundheit fokussiert, sondern auf Krankheit. Und das war Antonovskys Anliegen, als er den Begriff Salutogenese formulierte: Wenngleich er auch betonte, wie wichtig es natürlich ist, über Krankheitsauslöser zu forschen, so wollte er eine Fokussierung weg von der Krankheit – hin zur Gesundheit. Im Vordergrund steht also die Frage: Wie entsteht Gesundheit?
Ganz wesentlich in der salutogenetischen Betrachtungsweise ist, dass Gesundheit nicht als Zustand verstanden wird, sondern als Prozess, als Kontinuum. Für Antonovsky ist nun eine Hauptdeterminante dafür, welche Position man auf dem Krankheits-Gesundheits-Kontinuum erhält und auch dafür, dass man sich in Richtung des gesunden Pols bewegt, das Kohärenzgefühl (SoC- sense of coherence). Für ihn ist SoC „eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass
- die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
- einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;
- diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.“[1]
Das Urvertrauen spielt also eine große Rolle. Gelingt es uns, die drei Fähigkeiten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit in unser Leben zu integrieren- in allen Dimensionen unseres Daseins- vermittelt uns dies ein Gefühl der Kohärenz, der Stimmigkeit. Die subjektive Stimmigkeit ist das übergeordnete Kriterium für unser Gehirn. Das Gehirn sucht Übereinstimmungen zwischen dem Neuen, dem Bekannten und den eigenen Bedürfnissen und Zielen.

Wie stimmig ist dein Leben?
Ich möchte dir jetzt eine kleine Übung[2] vorstellen und dich einladen, ein paar Minuten dein Stimmigkeitserleben in den verschiedenen Lebensdimensionen achtsam wahrzunehmen. Mach es dir bequem, lass durch die folgenden Fragen dein Denken erwachen und ermögliche deiner Selbstregulation, dort angeregt zu werden, wo gerade Bedarf ist. Lass die Antworten in dir entstehen und in dir wirken.
Öffne dich zunächst deiner physikalisch-chemischen Stimmigkeit:
– Stimmt das Licht und die Temperatur mit deinen persönlichen Bedürfnissen überein?
– Stimmt – im wahrsten Sinne des Wortes – die Chemie, also stimmen der Geruch und das Hautgefühl? Stimmt auch die innere Chemie?
Öffne dich jetzt deiner vegetativen Stimmigkeit:
– Schmeckt dir das Essen und Trinken? Führt es auch nachträglich zu Wohlbefinden?
– Welche Anregungen und Informationen bekommst du von der Nahrung?
– Findest du auch im Tagesverlauf immer wieder einmal Entspannung?
Öffne dich jetzt deiner sozialen und emotionalen Stimmigkeit:
– Wie stimmig erlebst du deine nahen zwischenmenschlichen Beziehungen?
– Welche Emotionen spielen in deinen Beziehungen immer wieder eine große Rolle?
– Welche Stimmungen überwiegen in deiner Familie, deiner Partnerschaft, deinem Freundes- und Bekanntenkreis?
Öffne dich jetzt der kulturellen Stimmigkeit:
– Wie stimmig ist dein Beruf, deine Arbeit für dich?
– Welches Verhältnis hast du zur Technik? Zur Kunst? Zu den allgemeinen gesellschaftlichen Normen und Werten? Zu Gesetzen und Politik?
Öffne dich jetzt der globalen und geistigen Stimmigkeit:
– Wie stimmig ist es für dich, ein Teil der Menschheit zu sein?
– Fühlst du dich mitverantwortlich für eine globale Entwicklung? Vertraust du auf eine globale Entwicklung?
Öffne dich jetzt auch noch einer universellen Stimmigkeit.
– Ist für dich die Existenz eines übermenschlichen Systems stimmig, das mächtiger und intelligenter ist als die Menschheit, das auch in der Menschheit Resonanz hervorruft?
– Ist für dich ein Glaube an eine Gottheit, an etwas Göttliches oder an einen Gott stimmig möglich?
Der Weg zu immer mehr Stimmigkeit ist ein kreativer und lebenslanger Prozess, der durch viele Konflikte und Kohärenzübergänge führt. Sich Fragen wie diese zu stellen, kann uns helfen, in einer achtsamen Bewusstseinshaltung unsere innere Stimmigkeit in allen Dimensionen wohlwollend zu erfahren.
„Wir können eine Stimmigkeit herstellen zwischen unserem eigenen Lebenswillen, unserer liebevollen Verbundenheit mit Mitmenschen und unseren kultivierten Erkenntnissen. Ein Resultat einer solchen stimmigen Integration nennen wir Weisheit.“[3]
Literatur:
Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: DGVT 1997.
Petzold, Theodor Dirk: Gesundheit ist ansteckend. Praxisbuch Salutogenese. München: Irisiana 2013.
Schiffer, Eckhard: Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese – Schatzsuche statt Fehlerfahndung. Weinheim und Basel: Beltz 2013.
[1]Antonovsky: Salutogenese: S. 36
[2] Vgl.: Petzold: Gesundheit ist ansteckend: S. 40f.
[3]Petzold: Gesundheit ist ansteckend: S. 53.
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