Wer ein Konzert mit dem amerikanischen Kirtanprotagonisten Dave Stringer einmal erlebt hat, der weiß um die Qualität des ekstatischen Rausches dieser Abende. Dave Stringer rocks – Kirtan zwischen Ekstase und Stille.
„Die Musik in Indien kann unglaublich rhythmisch und rockig sein, das ist zeitweise ganz schön wild.“, Dave Stringer selbst sieht keinen großen Unterschied zwischen seinem rockigen Kirtanstil – Vergleiche mit Joe Cocker können einem da schon in den Sinn kommen – und der ekstatischen Ausdruckskraft indischer Traditionen. Er hat viele Monate in Indien, speziell im Ashram der Siddha Yogagemeinschaft in Ganeshpuri, zugebracht und ist dort in Kirtan- und Bhajanteachings eingetaucht. „Im Ashram von Ganeshpuri war es so, dass die Chants sehr langsam begonnen wurden und sich innerhalb von einer halben Stunde bis Stunde enorm in Tempo und Energie steigerten. Die Menschen sind aufgesprungen, haben geklatscht. Das produziert eine Welle der Ekstase und wenn diese Welle bricht, dann versetzt es jeden in eine wunderschöne kostbare Stille. Eine kollektive emotionale Katharsis ist das. Bei der Rockmusik erlebt man das ganz ähnlich.“ Dave eröffnet seine Bhajans mit Sanftheit und Langsamkeit, fast zärtlich in das Gewebe aus Klang und Sanskritsprache vertieft und führt seine Zuhörer in ekstatische Freude, singend und mit virtuosem Spiel am indischen Harmonium. Die Essenz des Kirtansingens erkennt Dave Stringer im Augenblick der Stille:„Irgendwie drückt sich in dieser Stille etwas Großes und Wundervolles aus, aber auch etwas Vertrautes, das Worte nicht beschreiben können. Ich denke, diese Stille ist genau der Grund warum ich Kirtan singe. Was auch immer da in mir ist, ich an Schwere, Dunkelheit oder Neid in meinen Gedanken habe, im Prozess des Chants wird es befreit und am Ende fühle ich mich still und da ist nichts hinzuzufügen, nichts wegzunehmen, nichts zu sagen, einfach nur dieses reine Sein und reine Nähe, alles ist okay.“

Fotocredit: davestringer.com
Lebensspuren
Eigentlich wollte Dave Stringer ja gar nichts zu tun haben mit irgendetwas, das auch nur entfernt einen spirituellen oder religiösen Hintergrund hat. Das ist ihm in Jugendtagen auf Grund seiner Geschichte abhanden gekommen. Er ist in einer sehr konservativen christlich orientierten amerikanischen Familie an den großen Seen in Oregon aufgewachsen, hat seit Kindertagen Klavier gelernt und sich in der Musik ein introvertiertes Nest gebaut. In jungen Erwachsenentagen erfindet er eine eigenwillige Musik, die stark von erfundenen Sprachmustern lebt. Als eine Plattenfirma seine zwar sehr ansprechenden, aber höchstwahrscheinlich unverkäuflichen Werke ablehnt, hängt er seine musikalische Hoffnung vorerst an den Haken. Dennoch begleitet ihn die Musik konstant durch sein weiteres Leben. Er spielt in Punkbands, Rockbands, Jazz Ensembles und landet beruflich als Produzent und Cutter von Filmen und Videos in Los Angeles. Hier klopft das Spirituelle wieder an seine Tür. „Freunde haben mich ständig gefragt, ob ich nicht zu diesem Guru kommen mag, oder da einmal Yoga erleben will. Ich habe immer abgelehnt, ich wollte frei sein. Das hat mich überhaupt nicht interessiert.“
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Bis eines Tages diese Frau aus Indien auftaucht „ Sie hat mich nach einem Job gefragt und ich habe ihr einen organisiert. Eine Amerikanerin, die viele Jahre in Indien gelebt hat.“ Einige Zeit später meldet sie sich telefonisch bei Dave und meint: `Danke, du hast mir sehr geholfen. Jetzt habe ich einen Job für dich. Mein Guru hier in Indien braucht einen Produzenten für Videos. Ich habe mich zum Meditieren hingesetzt und dabei kam raus, dass du das bist.´ Dave schüttelt seinen Kopf und bekräftigt: „Das war definitiv der sonderbarste Job, der mir je angeboten wurde, aber sie war sich ihrer Sache sehr sicher. Sie haben mir nicht sehr viel Geld angeboten, und ich war es damals gewohnt deutlich mehr Geld zu verdienen für meine Arbeit, also habe ich abgelehnt. Nach einiger Zeit hatte ich plötzlich keine Arbeit und kein Geld mehr. Dann habe ich mir gedacht, rufe ich einmal an und schaue, ob der Job noch zu haben ist und sie sagten: Ja, aber du musst jetzt sofort kommen. Das Geld ist noch immer dasselbe.“ Als er das erzählt lacht Dave lauthals. „Eine Woche später saß ich im Flugzeug nach Indien und hatte keine Ahnung, was auf mich zukommen würde.“
Ganeshpuri
Mit seiner Ankunft im Siddha-Yoga-Ashram beginnt eine intensive spirituelle Reise in die Yogapraxis und die Kunst des Kirtansingens. „Für mich war das Kraftvolle an der Begegnung mit Yoga in diesem Ashram, dass es da niemanden gab der sagte: Du musst dieses und jenes glauben. Sie sagten: Warum versuchst du nicht dies, oder probier doch mal das aus.
So habe ich Hatha-Yoga praktiziert. Es hat sich gut für mich angefühlt. Ich bin dabei natürlich auch Schwierigkeiten begegnet, und ich musste durch die Schwierigkeiten hindurch gehen. Aber statt zu pushen, sollte ich einen sanften Weg finden, um da hindurch zu gehen. Mit dem Atem vor allem. Dabei wurde mir bewusst, dass in meinem Körper Erinnerungen gespeichert sind. Durch die Bewegungen werden Erinnerungen freigesetzt. Ich konnte sie betrachten und loslassen. Das wurde zu einem kraftvollen Prozess für mich. Ich bin dann auch immer zum Kirtansingen gegangen, und niemand erklärte mir dort irgendetwas. Am Anfang war das frustrierend, aber dann erkannte ich, dass auch das sehr sinnvoll für mich war, weil es ein guter Weg ist, um zu lernen. Ich musste erst für mich verstehen, was Kirtan in mir bewirkt, was ich dabei fühle. Ich musste erst einmal meiner Erfahrung vertrauen lernen. Die Erfahrung überwand meinen Verstand, und ich erkannte, dass es genau das war, was meine Lehrer bewirken wollten. Der Verstand stellt sich immer so vielen Möglichkeiten in den Weg.“ Bei seiner Schulung wird er von seinen Lehrern gut herausgefordert. Erst muss er dem Bhajan dienen lernen, denn nicht die Selbstdarstellung sondern, das Lied selbst steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. „Dabei erfuhr ich: Oh, Musik ist mehr als einfach nur einen Song für irgendjemanden zu singen und irgendwer hört zu. Das war eine andere Art von Musik, an der alle teilhatten. Es fühlte sich anders an, bedeutungsvoller. Wenn wir alle zusammen singen, dann berühren wir einander, und die Ekstase des Kirtan ist ansteckend. Wir erheben uns gegenseitig. Manchmal, wenn ich einen Chant leite, dann sind die Menschen voller Widerstand, und es gibt möglicherweise nur eine einzige Person, die mitsingt und sich darauf einlässt, aber das hilft dann den anderen Menschen loszulassen, sich hinzugeben.“
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Wie es so kommt in der spirituellen Praxis, beginnt auch Dave immer wieder an Yoga zu zweifeln, an der Sinnhaftigkeit des Tuns im Angesicht des Leids in dieser Welt, speziell bei seinem Aufenthalt in Indien. Die Antwort darauf hat er für sich gefunden:„Wenn du Yoga praktizierst, dann befreist du alle von ihren negativen Schwingungen, und das ist sehr hilfreich für die Welt. Nur indem du dich selbst in eine glücklichere freiere Person verwandelst, hilfst du auch allen anderen um dich herum, sich zu befreien, und das ist sehr nützlich. Es gibt außerhalb von dir nichts, über das du tatsächlich Kontrolle hast, du kannst nur das ändern, was in dir selbst ist, und sogar das ist sehr, sehr schwierig. Gib dich einfach diesem Selbstwandel hin. Alles um dich herum wird sich verändern. Versuche nicht, die Welt zu verändern, versuche einfach nur, dich selbst zu ändern, und du wirst sehen, dass das einen Unterschied macht.“
Einatmen und ausatmen
Beim Kirtan findet ein Austausch zwischen denen, die den Kirtan anleiten, und denen, die mitsingen, statt. Es ist ein Kreislauf des Gebens und Nehmens. Es ist aber auch ein Kreislauf der Hormone, ein Tanz der Neuropeptide. Dave Stringer ist sehr interessiert an wissenschaftlichen Untersuchungen rund um „seine“ spirituellen Themen.
Was ist die Sicht der Wissenschaft, wie lässt sich die Wirkkraft des Yoga und seinem Geschwister, dem Kirtangesang aus diesem Blickwinkel erklären? Die Wissenschaft habe hier bereits zahlreiche Untersuchungen durchgeführt, meint Dave: „Es fängt mit der Atmung an. Das ist die Verbindung zwischen Yoga-Asana und Kirtanchant. Wir arbeiten mit unserem Atem. Du kannst deinen Körper bewegen, wie es dir gefällt, aber du machst nur wirklich Yoga, wenn du Atempraxis mit dazu erwirbst. Du wirst dir deines Atems bewusst und regulierst ihn. Wenn du singst, dann musst du deinen Atem ebenfalls verlangsamen, und auch dabei wirst du dir deines Atems bewusst. Das ist ganz natürlich, sonst kannst du keine einzige Zeile singen. Wenn du deinen Atem verlangsamst, beginnt dein Körper, eine Menge unterschiedlicher Chemikalien auszuschütten. Das beginnt in deinen Lungen und ist überall in deinem Körper, nicht nur in deinem Gehirn.
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Yoga handelt mit der Intelligenz deines Körpers. Dein Körper ist voller intelligenter Chemikalien, Neuropeptide genannt. Die Art und Weise, wie du atmest, reguliert diesen Prozess ganz wesentlich. Du brauchst ja nur jemanden zu beobachten, der Angst hat. Der Atem ist zwar regelmäßig, aber kurz und abgehackt. Wenn du die chemische Zusammensetzung des Blutes bei einem ängstlichen Menschen untersuchst, dann wirst du bemerken, dass jene Neuropeptide erzeugt werden, die ein ängstliches Gefühl auslösen. Alles, was du tun musst, um das zu ändern, ist es, den Atem zu verlangsamen.
Im Englischen sagt man: Hey, take a breath, also mach erstmal einen Atemzug. Wenn du anfängst, das zu machen, also den Atem zu verlangsamen, dann werden andere Chemikalien produziert, und die beinhalten eine Chemikalie genannt Anandamid. ,Ananda‘ ist das Sanskritwort für Glückseligkeit, und es ist ein Gefühl von Glückseligkeit, das über dich kommt, einfach weil du deinen Atem verlangsamst. Es wird auch noch Oxytocin ausgeschüttet, eine Chemikalie, die Bindungen zulässt, etwa das ,bonding‘ von Mutter und Neugeborenem oder das von Verliebten. Serotonin hat beruhigende Effekte, und Dopamin, das pusht dich wieder und gibt Kraft. Diese ganze Chemie wird durch deinen Atem kontrolliert. Nun, wenn Yoga sagt, die Glückseligkeit, die du suchst, findest du in dir selbst, dann ist das eine wahre Aussage. Denn der Mechanismus, durch den Glückseligkeit hervorgerufen wird, ist unter deiner Kontrolle und in deinem Körper. Du kannst das durch die Ausübung von Yoga erleben.“
Von Herz zu Herz
Dave Stringer ist neben seiner ambitionierten und mitreißenden Musikalität und seiner unprätentiösen Art zudem ein intelligenter Redner, der es versteht, mit seinem Wissen Brücken zu schlagen und Informationen lebendig zu vermitteln. So wie er es gelernt hat: „Direkt aus der Erfahrung erzählt, nichts Konstruiertes.“ Man berührt seine Zuhörer mit seinen persönlichen Erlebnissen, von Aug zu Aug und Herz zu Herz.
Dave Stringer hat dies in einer sehr ehrlichen Schule gelernt: bei seiner freiwilligen Arbeit in amerikanischen Gefängnissen. Er hat dort mehrmals wöchentlich Yoga mit den Insassen praktiziert und ist daran selbst sehr gereift: „Sie waren meine Lehrer. Ich habe gelernt, in einer einfachen und direkten Art zu lehren. Sie haben genau gespürt, wo ich echt bin. Diese Burschen nahmen Yoga wirklich ernst und stellten erstaunlich tiefe Fragen.“ Das Teilen des Kirtanerlebnisses ist seit einigen Jahren Dave Stringers Hauptprofession. „Ich habe mein Leben nicht bewusst dem Kirtan geweiht. Es ist passiert. Manchmal ist es einfacher, auf sein Leben zurückzuschauen, um zu erkennen, wo es dich wie und warum hingeführt hat. Denn wenn du vorwärts gehst, dann hast du keine Ahnung, was auf dich zukommt. Du triffst die Wahl, mal so, mal so, und das hat Konsequenzen. Früher saß ich alleine in einem dunklen Cutterzimmer und träumte von der weiten Welt, heute brauche ich einen neuen Pass, weil der alte bereits voll ist. Ich bereise die Welt und liebe, was ich tue.“
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Dave Stringer kann man nicht nur bei seinen Konzerten auf der ganzen Welt, sondern auch bei seinem Kirtanworkshop „Flight School“ sehr privat erleben. Die Schweizer Flight School im Schloss Glarisegg, direkt am Bodensee gelegen, eröffnete Dave Stringer gemeinsam mit Spring Groove, diesem Wasserfall an Dreadlocks, an unbändiger Energie und Strahlkraft einer begnadeten Musikerin, seiner Begleiterin bei europäischen Auftritten und den beiden nicht minder begabten Percussionisten, dem Münchner Erhard Dengl an den Tablas und Veetkam Strickler aus Zürich mit meisterlicher Percussionsvielfalt. Schon mit den ersten Takten hebt der Klangflieger mit seinen Passagieren und Flugbegleitern deutlich vom Erdboden ab und trägt die kirtanbegeisterte Schar in ekstatische Himmel. In kleinen Gruppen studieren die Mitwirkenden zwei ausgewählte Kirtans mit persönlicher Färbung ein, fachlich unterstützt von den vier Musikern.
Das Konzert der kleinen Bands zum Abschluss ist ein Höhenflug der Erfahrungen. Zwischen Ekstase und Stille hat auch bei mir, der Autorin des Artikels, der Kirtan seine Wirkung gezeitigt. Die Katharsis war in den anschließenden Tagen und Wochen deutlich spürbar.
Fotos: davestringer.com
Text: Sabine Bacher
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