Quälgeister oder Helferlein?
Die Kleshas
Kleshas sind die fünf leidverursachenden Verhaftungen. Der Yoga-Meister Patanjali hat im 2. Kapitel der Yoga Sutras diese leidschaffenden Faktoren beschrieben, die miteinander in Verbindung stehen.
Kleshas sind bestimmte Strukturen, Muster und irrationale Kräfte im menschlichen Geist, unsere Wahrnehmung und Handlungsweisen steuern und immer wieder in Situationen bringen, die leidvoll und mühselig sind. Sie sind quasi die uncoolen Quälgeister im Kopf, die unser Leben schwerer machen beziehungsweise durch die WIR UNS das Leben schwerer machen. Sie können sich schwach oder stark zeigen, ganz leise anklopfen oder permanent an die Tür unseres Lebens hämmern. Wohlan, schauen wir uns diese Quälgeister mal näher an …
Klesha Nr. 1: Avidya (Unwissenheit)
Avidya bedeutet so viel wie Nichtwissen, aber nicht im Sinne von Unwissen, sondern im Sinne von vorhandenem, aber falschem Wissen, Täuschung oder Fehlinterpretation. Avidya wird als die „Quelle“ betrachtet, aus der die anderen Kleshas entstehen. Die Wahrnehmung des Menschen ist in der Regel höchst subjektiv und so kann sie in einer (in jeder!) Situation richtig oder auch falsch sein. Avidya ist das Ergebnis von angehäuften Erfahrungen: In einer bestimmten Situation wurde einmal auf eine bestimmte Art empfunden, gedacht, verstanden, gehandelt – fortan wird diese automatisch, mechanisch, beinahe blind wiederholt. Ein ganz einfaches Beispiel wie Avidya sich im Alltagsleben zeigt: Eine Person verhält sich sehr abweisend, ist mürrisch und unfreundlich. Jetzt könntest du denken „Ah, die hat sicher was gegen mich.“ oder „Die könnte auch mal eine Portion Freundlichkeit an den Tag legen.“ oder was auch immer. Tatsächlich verhält es sich jedoch so, dass diese Person zur Zeit ein Problem mit sich selbst, mit ihrem Familienleben oder ihrer Gesundheit hat. Oder vielleicht hat sie einfach nur einen schlechten Tag, Bauchweh oder eine Blase am linken kleinen Zeh. (aber selbst das ist jetzt Interpretation;))
Klesha Nr. 2: Asmita (Identifizierung, Ego)
Entsteht erst mal eine Fehlinterpretation, ist der Weg zur Identifikation mit einer Situation oder mit dem Ego nicht weit. Mit Asmita ist das (übermächtige) Ego gemeint, die Identifikation mit dem Ich. Es bedeutet, sich selbst, seine Überzeugung, seine Ideen, seine Wahrheit seeeeehr wichtig zu nehmen.
Asmita kann zu Selbstbezogenheit, Hochmut und Stolz als auch umgekehrt zu einem minderwertigen Bild des Selbst oder Selbstmitleid führen. Asmita zeigt sich immer dann, wenn man den Ehrgeiz hat, besser als andere sein zu wollen oder immer davon überzeugt zu sein, recht zu haben. Auch Gefühle wie: „Immer geht es nur MIR schlecht…“ oder „Immer werde ICH ausgenutzt…“ haben ihren Ursprung in Asmita. Es bedeutet, die vollständige Identifikation mit einem momentanen Gefühl: Man erlebt einen Fehlschlag und schon identifiziert man sich mit dem Gefühl, ein Versager oder eine Versagerin zu sein zu sein.
Klesha Nr. 3: Raga (Wunsch)
Raga bedeutet Wunsch, Verlangen oder Begierde – nach etwas, was man vielleicht gar nicht unbedingt braucht, oder was einem sogar gar nicht gut tut (z.B. übermäßiges Essen, Konsum als Ersatzbefriedigung). Der Mensch will etwas haben, und wenn er es hat, ist es nicht genug. Raga verlangt nach immer noch mehr, nach einer Steigerung, nach dem nächsten „Kick“. Nur der wunderschöne, strahlende Sternenhimmel reicht nicht aus, um die Sache perfekt zu machen, fehlt noch ein guter Rotwein und ein paar Sternschnuppen und natürlich der perfekte Partner und eine Welt ohne Gelsen und Musik wäre auch nicht schlecht. Raga meint die kleinen und großen Süchte des Menschen (vor allem materieller Natur), nach denen wir verlangen, auch wenn wir sie gar nicht unbedingt gebrauchen können.
Klesha Nr. 3: Dvesha (Abneigung)
Ist erstmal etwas da, das wir unbedingt wollen, dann gibt es selbstverständlich auch etwas, das wir nicht wollen. Dvesha ist so etwas wie das Gegenteil von Raga: die (unbegründete) Ablehnung, Angst vor Veränderungen und dem Unbekannten. Es wurde einmal eine negative Erfahrung gemacht, fortan wird alles abgelehnt, was damit in Verbindung steht. Beispiel: Im Urlaub in Spanien wurde das Auto aufgebrochen und ausgeraubt. Künftig ist Spanien gefährlich und alle Spanier/innen kriminell. Oder: Ein Mensch wurde früher einmal von einem Hund gebissen und lehnt nun alle Hunde als grundsätzlich aggressive Tiere ab. Veränderungen zu negieren und am „Das-hat-man-aber-immer-schon-so-gemacht“ festzuhalten – auch das ist eine Form von Dvesha. Es muss aber differenziert werden, denn nicht jede Ablehnung muss gleich Dvesha sein: Wenn jemand es vermeidet, nachts allein durch ein düsteres Viertel zu gehen, weil dort Gefahren lauern könnten, so ist das nicht Dvesha, sondern begründete Vorsicht, eine realistische Einschätzung der Lage.
Klesha Nr. 4: Abhinivesha (Angst)
Das letzte der Kleshas entsteht dann, wenn Ablehung gesteigert wird. Abhinivesha kann übersetzt werden mit „Wurzel der Angst“ und meint sämtliche Formen von Angst und Furcht. Unsicherheit, Zweifel, Panik, Existenzängste, Angst vor der Zukunft, Angst vor Krankheiten, vor allem die Angst vor dem Tod. Dieses Klesha ist sehr mächtig, denn der Geist bestimmt unsere Realität. Wenn eine Person also von der Angst vor einer bestimmten Krankheit total dominiert wird, wird die Wahrscheinlichkeit als hoch betrachtet, dass die Person gerade diese Krankheit auch wirklich bekommt. (Wir möchten hier nicht Angst machen oder drohen, gleichzeitig ist es uns wichtig, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, wie sehr WIR verantwortlich für unsere Realität sind)
Vom Quälgeist zum Helferlein
Soweit so leidvoll. Und jetzt? Wie umgehen mit diesen Kleshas, die wohl jeder von uns in der einen oder anderen Form beziehungsweise Ausprägung kennt? Nun, Patanjali empfiehlt zur Überwindung und den Umgang mit den Kleshas vor allem Tapas (Disziplin), Svadhyaya (Selbststudium) und Techniken aus dem Kriya Yoga, doch wahrscheinlich ist – wie bei allen Herausforderungen im Leben – die Bewältigung dieser äußerst individuell. Der erste Schritt beginnt immer mit Achtsamkeit, Abstand, mit Wahrnehmung mit dem distanzierten Moment, der dir da sagt: “Aaah, jetzt bin ich gerade wieder dabei zu interpretieren” oder “Hm, wieder einmal Dagegensein als Verständnis zeigen.” Dieser erste Schritt ist schon ganz viel wert und die weiteren Schritte liegen wie gesagt bei jedem selbst. Der eine findet Lösung in der Asana- oder Pranayamapraxis, die nächste erlebt Erleichterung in der Meditation oder im Selbststudium, dieser holt sich (körper)therapeutische Unterstützung, jene stößt auf Hilfe in der Natur …
Der Prozess, einen Umgang mit den lieben Quälgeistern im Kopf zu finden, ist wie gesagt und individuell und … dauert – da können wir uns sicher sein. (sorry, liebe Yogi/nis, wiedermal heißt es Geduld haben) Und gerade in dem Moment, in dem wir überzeugt sind „Ha, jetzt hab ich’s kapiert, voll gecheckt.“, klopft etwas Neues an, das es gilt anzuschauen. Doch nehmen wir uns unserer Kleshas bewusst und achtsam an, sind sie es, die uns zu beschenkenden Erkenntnissen verhelfen und in weiterer Folge zu tiefst empfundener Freiheit. Freiheit von dem, was uns selbst zurückhält. Freiheit von dem, was uns bindet. Freiheit von gedachten Grenzen unserem eigenen Selbst gegenüber.
Text: Birgit Pöltl, Lena Raubaum
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