Über die Zeit der Zeitlosigkeit
“Wenn du einmal Mutter wirst, wirst du keine Zeit mehr haben.” Diesen Satz habe ich vor und während meiner Schwangerschaft tausend Mal gehört. Er stimmt. Und auch nicht. Kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man ihn betrachtet.
Als Mama schwimmst du täglich zwischen Zeitdruck, Zeitlosigkeit, keine-Zeit-haben und zeitlos-in-und-mit-deinem-Kind-versinken hin und her. Du musst in 24 Stunden einfach viel, manchmal viel zu viel unterbringen. In manchen Momenten meines Alltags setzt es mich unter Druck. Sehr großen Druck. Manchmal wache ich morgens auf und würde am liebsten wieder meine Augen schließen und weiterschlafen, wenn ich daran denke, wie viel ich in der Zeit, die ich habe, unterbringen muss.
Wenn du innerhalb von 20 Minuten ein Mittagessen kochen, dein Kind dabei unterhalten und ein wichtiges E-Mail beantworten musst und dabei auch noch das Piepsen der fertigen Waschmaschine wahrnimmst, beginnt dein Herz gestresst zu rasen. Alles muss schnell gehen, du rennst der Zeit ständig hinterher, merkst am Ende des Tages, dass du für die Hälfte der Aufgaben, die du dir morgens vorgenommen hast, eigentlich keine Zeit hattest. Dein Tag ist voll von Dingen, die teilweise sehr viel Zeit kosten. Aufstehen. Frühstücken machen für dein Kind. Kind in die Krippe bringen. Arbeiten. Kochen. Wäsche waschen. Wäsche aufhängen. Kind stillen. Einkaufen gehen. Spielen. Arbeiten. Abendessen machen. Jeden Tag. Sieben Tage die Woche. Zeit für mich als Mensch? Gibt es nicht oder zumindest nicht, wenn ich sie mir nicht bewusst schaffe. Dieser ständige Zeitdruck hat mich immer wieder aus meiner Balance geworfen. Es machte mich unruhig, wütend, ungenießbar. Und es wirkte sich negativ auf die Beziehung zu meinem Sohn aus. Denn je unruhiger ich wurde, desto unausstehlicher wurde er und ich hatte noch weniger Zeit.
Bis ich erkannte (und es war wirklich ein langer Prozess): Ich muss langsamer werden, um mich entspannen zu können. Und zwar nicht unbedingt in der Art und Weise, wie ich meine Aufgaben handhabe, sondern in meinem Kopf. In der Art und Weise, wie ich denke. Denn ich erkannte, dass es nicht das Fehlen der Zeit war, das mich stresste, sondern meine Gedanken. Ich stand mir selbst im Weg. Mit dem Anspruch, alles zu wollen, was noch nicht einmal da war, anstatt das anzunehmen, was ich gerade machte. In Ruhe. Bewusst. Zeitlos.
Es wurde immer wichtiger für unseren Familienfrieden, dass ich lernte, Zeit und Raum für mich zu schaffen. Ohne Kind. Ohne Arbeit. Denn diese Momente des “mit-mir-Seins” gaben mir die Kraft, wieder Mutter zu sein. Ich versuchte mir täglich 20 Minuten für mich zu nehmen. Um zu atmen. Nichts zu tun. Ja nicht einmal Yogaübungen. Meistens setze ich mich an irgendeinen stillen Ort, schloss die Augen, atmete tief ein und aus und ließ das Leben sein, was es ist. Ohne zu denken. Ohne irgendetwas machen zu wollen oder zu müssen. Diese Momente sind zu meinen täglichen Schatztruhen geworden. Dort in dieser Zeitlosigkeit tanke ich Kraft für die kommenden Momente in der Matrix der Zeit. Und sie sind so wichtig und wertvoll für mein Gleichgewicht.
Und das Größte, was mein Sohn mich täglich lehrt ist, wie heilsam es ist, in die Zeitlosigkeit mit ihm gemeinsam einzutauchen. In diesen Momenten, wenn er spielt, langsam geht, bei jeder Ecke stehen bleibt, um etwas zu erforschen und eine Stunde lang sein Mittagessen genießt, weil er langsam isst, merke ich erst, wie gestresst ich eigentlich mein Leben lebe. Wie in meinem Kopf ständig nur eine To-do-Liste abläuft, die sowieso niemals ein Ende hat, weil jeden Augenblick neue Aufgaben dazukommen. Ich merke, wie sehr das Leben an mir vorbeiläuft und ich – anstatt im Moment mit meinem Sohn zu leben – entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft bin und mich dadurch selbst zerstreue und Kraft raube. Ich laufe der Zeit ständig hinterher, merke nicht, dass der Schlüssel zur Befreiung darin liegt, bewusst in der Zeit aufzugehen.
Yoga lehrt uns, flüstert uns im Jetzt zu sein. Denn nur im Jetzt atmen wir tief ein und aus. Nur im Jetzt findet das Leben statt. Nur im Jetzt sind wir ganz bei uns. “Zeit ist überhaupt nicht kostbar, denn sie ist eine Illusion. Was dir so kostbar erscheint, ist nicht die Zeit, sondern der einzige Punkt, der außerhalb der Zeit liegt: das Jetzt. Das allerdings ist kostbar. Je mehr du dich auf die Zeit konzentrierst, auf Vergangenheit und Zukunft, desto mehr verpasst du das Jetzt, das Kostbarste, was es gibt“, schreibt Eckhart Tolle, einer der großen Meister unserer heutigen Zeit.
Mein zweijähriger Sohn lehrt mich diese Kostbarkeit des Jetzt zu erkennen und darin einzutauchen. So wird er zu einem der großen Meister meiner heutigen Zeit. Täglich. Wie sehr genieße ich es, wenn ich alle meine Gedanken befreien kann, um gemeinsam mit ihm einer Ameise bei ihrem Weg auf der Erde zuzusehen. Oder mit ihm einfach alles langsamer zu machen. Langsam zu gehen. Langsam zu essen. Langsam zu sein. Mein Sohn ist im Flow. Für ihn gibt es keine Zukunft und auch keine Vergangenheit. Er kennt Tag und Nacht. Die Rhythmen des Lebens. Nicht irgendwelche Zeiten und Termine, die es einzuhalten gibt. Er kennt den Zustand des Aufgehens im Moment und des dort Verweilens. Er erwartet nicht, zu einer bestimmten Zeit irgendwo zu sein und dann irgendetwas zu machen. In der Zukunft. Er lässt das Leben auf sich wirken und erfreut sich daran.
Wir Erwachsenen nennen diesen Zustand Meditation. Es ist der Moment, wenn du im Yoga bewusst atmest, deinen Körper bewegst und im Fluss des Lebens ankommst. Es ist der Moment, wenn du auf die Weite des Meeres hinausblickst, die warme Brise des Windes auf deiner Haut wahrnimmst und deine Gedanken sich auflösen. Du willst nichts. Du erwartest nichts. Du stellst dir nicht vor, wie es wäre, wenn oder denkst ständig darüber nach, was gewesen wäre, wenn. “Warten ist ein Geisteszustand. Grundsätzlich bedeutet es, dass du die Zukunft willst; du willst nicht die Gegenwart. Du willst nicht das, was du hast, du willst das, was du nicht hast. Mit jeder Art von Warten schaffst du unbewusst einen inneren Konflikt zwischen deinem Hier und Jetzt, wo du nicht sein willst, und der projizierten Zukunft, wo du sein willst. Das reduziert die Qualität deines Lebens gewaltig, weil du die Gegenwart verlierst“, schreibt Eckhart Tolle und beschreibt damit, wie sehr wir eigentlich am Leben vorbei leben, anstatt den Moment zu umarmen.
Das zeitlose Sein in der „erfundenen Zeit“ unserer Gesellschaft, ist ein Zustand, den Kinder sehr oft ganz natürlich erleben. Während wir täglich danach ringen, wieder dorthin zu kommen und teilweise viel Geld für Meditationskurse, Ratgeber und Yogasession ausgeben. Vielleicht können wir als Mamas mehr zeitlose Zeit mit unseren Kindern verbringen. Wirklich mit ihnen darin aufgehen. Dafür müssen wir uns jedoch als Mamis, Papis, Menschen, die Kinder auf ihren Lebenswegen begleiten, den Raum und die Zeit geben, das zu tun. Mal alle Termine einfach einmal sein lassen. In den Flow des Tages eintauchen und schauen, was er bringt. Ohne irgendetwas zu wollen, sollen, müssen. Die virtuelle To-Do-Liste in unseren Köpfen einfach einmal schließen und uns dem Leben im Jetzt hingeben. Es ist nicht leicht. Es wird uns herausfordern. Es wird uns lehren, tief ein- und auszuatmen. Und mit jedem Gedanken und jedem Gefühl immer wieder den Versuch zu starten, in dem Moment mit unserem Kind zu landen und uns bewusst dort zu verankern. Wie in einer Yogaasana, wenn wir ein- und wieder ausatmen. Kraftvoll und entspannt.
Ich habe es probiert und manchmal geschafft. Das waren die schönsten, entspanntesten und zeitlosesten Zeiten meines Lebens. Ich hatte das Gefühl zu leben. Wirklich. Einfach zu leben und bewusst, langsam, aufmerksam und ganz in den Fluss des Lebens einzutauchen. Ich danke meinem Sohn dafür, dass er mir ein Meister im Genuss der Zeitlosigkeit des Lebens ist. Es ist so heilsam und lässt mich täglich das Wunder des Lebens erleben. Denn es ist die Lebenszeit, die wir haben, bevor wir nach unserem Tod wieder in die Zeitlosigkeit der ewigen Schöpfung eintauchen. Und diese Zeit ist das wertvollste Geschenk des Menschseins.
Fotocredits: Nives Gobo
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